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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller
GA 2

5. Hinweis auf den Inhalt der Erfahrung

Sehen wir uns nun die reine Erfahrung einmal an. Was enthält sie, wie sie an unserem Bewußtsein vorüberzieht, ohne daß wir sie denkend bearbeiten? Sie ist bloßes Nebeneinander im Raume und Nacheinander in der Zeit; ein Aggregat aus lauter zusammenhanglosen Einzelheiten. Keiner der Gegenstände, die da kommen und gehen, hat mit dem anderen etwas zu tun. Auf dieser Stufe sind die Tatsachen, die wir wahrnehmen, die wir innerlich durchleben, absolut gleichgültig füreinander.

Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von ganz gleichwertigen Dingen. Kein Ding, kein Ereignis darf den Anspruch erheben, eine größere Rolle in dem Getriebe der Welt zu spielen als ein anderes Glied der Erfahrungswelt. Soll uns klar werden, daß diese oder jene Tatsache größere Bedeutung hat als eine andere, so müssen wir die Dinge nicht bloß beobachten, sondern schon in gedankliche Beziehung setzen. Das rudimentäre Organ eines Tieres, das vielleicht nicht die geringste Bedeutung für dessen organische Funktionen hat, ist für die Erfahrung ganz gleichwertig mit dem wichtigsten Organe des Tierkörpers. Jene größere oder geringere Wichtigkeit wird uns eben erst klar, wenn wir über die Beziehungen der einzelnen Glieder der Beobachtung nachdenken, das heißt, wenn wir die Erfahrung bearbeiten.

Für die Erfahrung ist die auf einer niedrigen Stufe der Organisation stehende Schnecke gleichwertig mit dem höchst entwickelten Tiere. Der Unterschied in der Vollkommenheit der Organisation erscheint uns erst, wenn wir die gegebene Mannigfaltigkeit begrifflich erfassen und durcharbeiten. Gleichwertig in dieser Hinsicht sind auch die Kultur des Eskimo und jene des gebildeten Europäers; Cäsars Bedeutung für die geschichtliche Entwickelung der Menschheit erscheint der bloßen Erfahrung nicht größer als die eines seiner Soldaten. In der Literaturgeschichte ragt Goethe nicht über Gottsched empor, wenn es sich um die bloße erfahrungsmäßige Tatsächlichkeit handelt.

Die Welt ist uns auf dieser Stufe der Betrachtung gedanklich eine vollkommen ebene Fläche. Kein Teil dieser Fläche ragt über den anderen empor; keiner zeigt irgendeinen gedanklichen Unterschied von dem anderen. Erst wenn der Funke des Gedankens in diese Fläche einschlägt, treten Erhöhungen und Vertiefungen ein, erscheint das eine mehr oder minder weit über das andere emporragend, formt sich alles in bestimmter Weise, schlingen sich Fäden von einem Gebilde zum anderen; wird alles zu einer in sich vollkommenen Harmonie.

Wir glauben durch unsere Beispiele wohl hinlänglich gezeigt zu haben, was wir unter jener größeren oder geringeren Bedeutung der Wahrnehmungsgegenstände (hier gleichbedeutend genommen mit Dingen der Erfahrung) verstehen, was wir uns unter jenem Wissen denken, das erst entsteht, wenn wir diese Gegenstände im Zusammenhange betrachten. Damit glauben wir zugleich vor dem Einwande gesichert zu sein, daß unsere Erfahrungswelt ja auch schon unendliche Unterschiede in ihren Objekten zeigt, bevor das Denken an sie herantritt. Eine rote Fläche unterscheide sich doch auch ohne Betätigung des Denkens von einer grünen. Das ist richtig. Wer uns aber damit widerlegen wollte, hat unsere Behauptung vollständig mißverstanden. Das gerade behaupten wir ja, daß es eine unendliche Menge von Einzelheiten ist, die uns in der Erfahrung geboten wird. Diese Einzelheiten müssen natürlich voneinander verschieden sein, sonst würden sie uns eben nicht als unendliche, zusammenhanglose Mannigfaltigkeit gegenübertreten. Von einer Unterschiedlosigkeit der wahrgenommenen Dinge ist gar nicht die Rede, sondern von ihrer vollständigen Beziehungslosigkeit, von der unbedingten Bedeutungslosigkeit der einzelnen sinnenfälligen Tatsache für das Gaze unseres Wirklichkeitsbildes. Gerade weil wir diese unendliche qualitative Verschiedenheit anerkennen, werden wir zu unseren Behauptungen gedrängt.

Träte uns eine in sich geschlossene, harmonisch gegliederte Einheit gegenüber, so könnten wir doch nicht von einer Gleichgültigkeit der einzelnen Glieder dieser Einheit in bezug aufeinander sprechen.

Wer unser oben gebrauchtes Gleichnis deswegen nicht entsprechend fände, hätte es nicht beim eigentlichen Vergleichungspunkte gefaßt. Es wäre freilich falsch, wenn wir die unendlich verschieden gestaltete Wahrnehmungswelt mit der einförmigen Gleichmäßigkeit einer Ebene vergleichen wollten. Aber unsere Ebene soll durchaus nicht die mannigfaltige Erscheinungswelt versinnlichen, sondern das einheitliche Gesamtbild, das wir von dieser Welt haben, solange das Denken nicht an sie herangetreten ist. Auf diesem Gesamtbilde erscheint nach der Betätigung des Denkens jede Einzelheit nicht so, wie sie die bloßen Sinne vermitteln, sondern schon mit der Bedeutung, die sie für das Ganze der Wirklichkeit hat. Sie erscheint somit mit Eigenschaften, die ihr in der Form der Erfahrung vollständig fehlen.

Nach unserer Überzeugung ist es Johannes Volkelt vorzüglich gelungen, das in scharfen Umrissen zu zeichnen, was wir reine Erfahrung zu nennen berechtigt sind. Schon vor fünf Jahren in seinem Buche über «Kants Erkenntnistheorie» ist sie vortrefflich charakterisiert und in seiner neuesten Veröffentlichung: «Erfahrung und Denken» hat er die Sache dann weiter ausgeführt. Er hat das nun freilich zur Unterstützung einet Ansicht getan, die von der unsrigen grundverschieden ist und in einer wesentlich anderen Absicht, als die unsere gegenwärtig ist. Das kann uns aber nicht hindern, seine vorzügliche Charakterisierung der reinen Erfahrung hierher zu setzen. Sie schildert uns einfach die Bilder, die in einem beschränkten Zeitabschnitte in völlig zusammenhangloser Weise vor unserem Bewußtsein vorüberziehen. Volkelt sagt: «Jetzt hat zum Beispiel mein Bewußtsein die Vorstellung, heute fleißig gearbeitet zu haben, zum Inhalte; unmittelbar daran knüpft sich der Vorstellungsinhalt, mit gutem Gewissen spazieren gehen zu können; doch plötzlich tritt das Wahrnehmungsbild der sich öffnenden Türe und des hereintretenden Briefträgers ein; das Briefträgerbild erscheint bald handausstreckend, bald mundöffnend, bald das Gegenteil tuend; zugleich verbinden sich mit dem Wahrnehmungsinhalte des Mundöffnens allerhand Gehörseindrücke, unter anderen auch einer, daß es draußen zu regnen anfange. Das Briefträgerbild verschwindet aus meinem Bewußtsein, und die Vorstellungen, die nun eintreten, haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte: Ergreifen der Schere, Öffnen des Briefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens, Gesichtsbilder mannigfachster Schriftzeichen, mannigfache sich daran knüpfende Phantasiebilder und Gedanken; kaum ist diese Reihe vollendet, als wiederum die Vorstellung, fleißig gearbeitet zu haben, und die mit Mißmut begleitete Wahrnehmung des fortfahrenden Regens eintreten; doch beide verschwinden aus meinem Bewußtsein, und es taucht eine Vorstellung auf mit dem Inhalte, daß eine während des heutigen Arbeitens gelöst geglaubte Schwierigkeit nicht gelöst sei; damit zugleich sind die Vorstellungen: Willensfreiheit, empirische Notwendigkeit, Verantwortlichkeit, Wert der Tugend, absoluter Zufall, Unbegreiflichkeit usw. eingetreten und verbinden sich miteinander in der verschiedenartigsten, kompliziertesten Weise; und ähnlich geht es weiter.»

Da haben wir für einen gewissen, beschränkten Zeitabschnitt das geschildert, was wir wirklich erfahren, diejenige Form der Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteil hat.

Man darf nun durchaus nicht glauben, daß man zu einem anderen Resultate gekommen wäre, wenn man statt dieser alltäglichen Erfahrung etwa die geschildert hätte, die wir an einem wissenschaftlichen Versuche oder an einem besonderen Naturphänomen machen. Hier wie dort sind es einzelne zusammenhanglose Bilder, die vor unserem Bewußtsein vorüberziehen. Erst das Denken stellt den Zusammenhang her.

Das Verdienst, in scharfen Konturen gezeigt zu haben, was uns eigentlich die von allem Gedanklichen entblößte Erfahrung gibt, müssen wir auch dem Schriftchen: «Gehirn und Bewußtsein» von Dr. Richard Wahle (Wien 1884) zuerkennen; nur mit der Einschränkung, daß, was Wahle als unbedingt gültige Eigenschaften der Erscheinungen der Außen- und Innenwelt hinstellt, nur von der ersten Stuft der Weltbetrachtung gilt, die wir charakterisiert haben. Wir wissen nach Wahle nur von einem Nebeneinander im Raume und einem Nacheinander in der Zeit. Von einem Verhältnisse der nebenoder nacheinander bestehenden Dinge kann nach ihm gar keine Rede sein. Es mag zum Beispiel immerhin irgendwo ein innerer Zusammenhang zwischen dem warmen Sonnenstrahl und dem Erwärmen des Steines bestehen; wir wissen nichts von einem ursächlichen Zusammenhange; uns wird allein klar, daß auf die erste Tatsache die zweite folgt. Es mag auch irgendwo, in einer uns unzugänglichen Welt-, ein innerer Zusammenhang zwischen unserem Gehirnmechanismus und unserer geistigen Tätigkeit bestehen; wir wissen nur, daß beides parallel verlaufende Vorkommnisse sind; wir sind durchaus nicht berechtigt, zum Beispiel einen Kausalzusammenhang beider Erscheinungen anzunehmen.

Wenn freilich Wahle diese Behauptung zugleich als letzte Wahrheit der Wissenschaft hinstellt, so bestreiten wir diese Ausdehnung derselben; sie gilt aber vollkommen für die erste Form, in der wir die Wirklichkeit gewahr werden.

Nicht nur die Dinge der Außen- und die Vorgänge der Innenwelt stehen auf dieser Stufe unseres Wissens zusammenhanglos da, sondern auch unsere eigene Persönlichkeit ist eine isolierte Einzelheit gegenüber der übrigen Welt. Wir finden uns als eine der unzähligen Wahrnehmungen ohne Beziehung zu den Gegenständen, die uns umgeben.