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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller
GA 2

10. Innere Natur des Denkens

Wir treten dem Denken noch um einen Schritt näher. Bisher haben wir bloß die Stellung desselben zu der übrigen Erfahrungswelt betrachtet. Wir sind zu der Ansicht gekommen, daß es innerhalb derselben eine ganz bevorzugte Stellung einnimmt, daß es eine zentrale Rolle spielt. Davon wollen wir jetzt absehen. Wir wollen uns hier nur auf die innere Natur des Denkens beschränken. Wir wollen den selbsteigenen Charakter der Gedankenwelt untersuchen, um zu erfahren, wie ein Gedanke von dem andern abhängt; wie d je Gedanken zueinander stehen. Daraus erst werden sich uns die Mittel ergeben, Aufschluß über die Frage zu gewinnen: Was ist überhaupt Erkennen? Oder mit anderen Worten: Was heißt es, sich Gedanken über die Wirklichkeit zu machen; was heißt es, sich durch Denken mit der Welt auseinandersetzen zu wollen?

Wir müssen uns da von jeder vorgefaßten Meinung frei erhalten. Eine solche aber wäre es, wenn wir voraussetzen wollten, der Begriff (Gedanke) sei das Bild innerhalb unseres Bewußtseins, durch das wir Aufschluß über einen außerhalb desselben liegenden Gegenstand gewinnen. Von dieser und ähnlichen Voraussetzungen ist an diesem Orte nicht die Rede. Wir nehmen die Gedanken, wie wir sie vorfinden. Ob sie zu irgend etwas anderem eine Beziehung haben und was für eine, das wollen wir eben untersuchen. Wir dürfen es daher nicht hier als Ausgangspunkt hinstellen. Gerade die angedeutete Ansicht über das Verhältnis von Begriff und Gegenstand ist sehr häufig. Man definiert ja oft den Begriff als das geistige Gegenbild eines außerhalb des Geistes liegenden Gegenstandes. Die Begriffe sollen die Dinge abbilden, uns eine getreue Photographie derselben vermitteln. Man denkt oft, wenn man vom Denken spricht, überhaupt nur an dieses vorausgesetzte Verhältnis. Fast nie trachtet man danach, das Reich der Gedanken innerhalb seines eigenen Gebietes einmal zu durchwandern, um zu sehen, was sich hier ergibt.

Wir wollen dieses Reich hier in der Weise untersuchen, als ob es außerhalb der Grenzen desselben überhaupt nichts mehr gäbe, als ob das Denken alle Wirklichkeit wäre. Wir sehen für einige Zeit von der ganzen übrigen Welt ab.

Daß man das in den erkenntnistheoretischen Versuchen, die sich auf Kant stützen, unterlassen hat, ist verhängnisvoll für die Wissenschaft geworden. Diese Unterlassung hat den Anstoß zu einer Richtung in dieser Wissenschaft gegeben, die der unsrigen völlig entgegengesetzt ist. Diese Wissenschaftsrichtung kann ihrer ganzen Natur nach Goethe nie begreifen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ungoethisch, von einer Behauptung auszugehen, die man nicht in der Beobachtung vorfindet, sondern selbst in das Beobachtete hineinlegt. Das geschieht aber, wenn man die Ansicht an die Spitze der Wissenschaft stellt: Zwischen Denken und Wirklichkeit, Idee und Welt besteht das angedeutete Verhältnis. Im Sinne Goethes handelt man nur, wenn man sich in die eigene Natur des Denkens selbst vertieft und dann zusieht, welche Beziehung sich ergibt, wenn dann dieses seiner Wesenheit nach erkannte Denken zu der Erfahrung in ein Verhältnis gebracht wird.

Goethe geht überall den Weg der Erfahrung im strengsten Sinne. Er nimmt zuerst die Objekte, wie sie sind, sucht mit völliger Fernhaltung aller subjektiven Meinung ihre Natur zu durchdringen; dann stellt er die Bedingungen her, unter denen die Objekte in Wechselwirkung treten können und wartet ab, was sich hieraus ergibt. Goethe sucht der Natur Gelegenheit zu geben, ihre Gesetzmäßigkeit unter besonders charakteristischen Umständen, die er herbeiführt, zur Geltung zu bringen, gleichsam ihre Gesetze selbst auszusprechen.

Wie erscheint uns unser Denken für sich betrachtet? Es ist eine Vielheit von Gedanken, die in der mannigfachsten Weise miteinander verwoben und organisch verbunden sind. Diese Vielheit macht aber, wenn wir sie nach allen Seiten hinreichend durchdrungen haben, doch wieder nur eine Einheit, eine Harmonie aus. Alle Glieder haben Bezug aufeinander, sie sind füreinander da; das eine modifiziert das andere, schränkt es ein und so weiter. Sobald sich unser Geist zwei entsprechende Gedanken vorstellt, merkt er alsogleich, daß sie eigentlich in eins miteinander verfließen. Er findet überall Zusammengehöriges in seinem Gedankenbereiche; dieser Begriff schließt sich an jenen, ein dritter erläutert oder stützt einen vierten und so fort. So zum Beispiel finden wir in unserm Bewußtsein den Gedankeninhalt «Organismus» vor; durchmustern wir unsere Vorstellungswelt, so treffen wir auf einen zweiten: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum». Sogleich wird klar, daß diese beiden Gedankeninhalte zusammengehören, daß sie bloß zwei Seiten eines und desselben Dinges vorstellen. So aber ist es mit unserm ganzen Gedankensystem. Alle Einzelgedanken sind Teile eines großen Ganzen, das wir unsere Begriffswelt nennen.

Tritt irgendein einzelner Gedanke im Bewußtsein auf, so ruhe ich nicht eher, bis er mit meinem übrigen Denken in Einklang gebracht ist. Ein solcher Sonderbegriff, abseits von meiner übrigen geistigen Welt, ist mir ganz und gar unerträglich. Ich bin mir eben dessen bewußt, daß eine innerlich begründete Harmonie aller Gedanken besteht, daß die Gedankenwelt eine einheitliche ist. Deshalb ist uns jede solche Absonderung eine Unnatürlichkeit, eine Unwahrheit.

Haben wir uns bis dahin durchgerungen, daß unsere ganze Gedankenwelt den Charakter einer vollkommenen, inneren Übereinstimmung trägt, dann wird uns durch sie jene Befriedigung, nach der unser Geist verlangt. Dann fühlen wir uns im Besitze der Wahrheit.

Indem wir die Wahrheit in der durchgängigen Zusammenstimmung aller Begriffe, über die wir verfügen, sehen, drängt sich die Frage auf: Ja, hat denn das Denken, abgesehen von aller anschaulichen Wirklichkeit, von der sinnenfälligen Erscheinungswelt, auch einen Inhalt? Bleibt nicht die vollständige Leere, ein reines Phantasma zurück, wenn wir allen sinnlichen Inhalt beseitigt denken?

Daß das letztere der Fall sei, dürfte wohl eine weit verbreitete Meinung sein, so daß wir sie ein wenig näher betrachten müssen. Wie wir bereits oben bemerkten, denkt man sich ja so vielfach das ganze Begriffssystem nur als eine Photographie der Außenwelt. Man hält zwar daran fest, daß sich unser Wissen in der Form des Denkens entwickelt; fordert aber von einer «streng objektiven Wissenschaft», daß sie ihren Inhalt nur von außen nehme. Die Außenwelt müsse den Stoff liefern, welcher in unsere Begriffe einfließt. Ohne jene seien diese leere Schemen ohne allen Inhalt. Fiele die Außenwelt weg, so hätten Begriffe und Ideen keinen Sinn mehr, denn sie sind um ihrer willen da. Man könnte diese Ansicht die Verneinung des Begriffs nennen. Denn er hat für die Objektivität dann gar keine Bedeutung mehr. Er ist ein zu letzterer Hinzugekommenes. Die Welt stünde in aller Vollkommenheit auch da, wenn es keine Begriffe gäbe. Denn sie bringen ja nichts Neues zu derselben hinzu. Sie enthalten nichts, was ohne sie nicht da wäre. Sie sind nur da, weil sich das erkennende Subjekt ihrer bedienen will, um in einer ihm angemessenen Form das zu haben, was anderweitig schon da ist. Sie sind für dasselbe nur Vermittler eines Inhaltes, der nichtbegrifflicher Natur ist. So die angezogene Ansicht.

Wenn sie begründet wäre, müßte eine von den folgenden drei Voraussetzungen richtig sein.

1. Die Begriffswelt stehe in einem solchen Verhältnisse zur Außenwelt, daß sie nur den ganzen Inhalt derselben in anderer Form wiedergibt. Hier ist unter Außenwelt die Sinnenwelt verstanden. Wenn das der Fall wäre, dann könnte man wahrlich nicht einsehen, welche Notwendigkeit bestände, sich überhaupt über die Sinnenwelt zu erheben. Man hat ja das ganze Um und Auf des Erkennens schon mit der letzteren gegeben.

2. Die Begriffswelt nehme nur einen Teil der «Erscheinung für die Sinne» als ihren Inhalt auf. Man denke sich die Sache etwa so. Wir machen eine Reihe von Beobachtungen. Wir treffen da auf die verschiedensten Objekte. Wir bemerken dabei, daß gewisse Merkmale, die wir an einem Gegenstande entdecken, schon einmal von uns beobachtet worden sind. Es durchmustere unser Auge eine Reihe von Gegenständen A, B, C, D usw. A hätte die Merkmale q a r; B: 1mb n; C: k h cg und D:p na v. Da treffen wir bei D wieder auf die Merkmale a und p, die wir schon bei A angetroffen haben. Wir bezeichnen diese Merkmale als wesentliche. Und insoferne A und D die wesentlichen Merkmale gleich haben, nennen wir sie gleichartig. So fassen wir A und D dann zusammen, indem wir ihre wesentlichen Merkmale im Denken festhalten. Da haben wir ein Denken, das sich mit der Sinnenwelt nicht ganz deckt, auf das also die oben gerügte Überflüssigkeit nicht anzuwenden und das doch ebenso weit entfernt ist, Neues zu der Sinnenwelt hinzuzubringen. Dagegen läßt sich vor allem sagen: um zu erkennen, welche Eigenschaften einem Dinge wesentlich sind, dazu gehöre schon eine gewisse Norm, die es uns möglich macht, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Diese Norm kann in dem Objekte nicht liegen, denn dieses enthält ja das Wesentliche und Unwesentliche in ungetrennter Einheit. Diese Norm müsse also doch selbsteigener Inhalt unseres Denkens sein.

Dieser Einwand stößt aber die Ansicht noch nicht ganz um. Man kann nämlich sagen: Das sei eben eine ungerecht-fertigte Annahme, daß dies oder jenes wesentlicher oder unwesentlicher für ein Ding sei. Das kümmere uns auch nicht. Es handle sich bloß darum, daß wir gewisse gleiche Eigenschaften bei mehreren Dingen antreffen, und die letzteren nennen wir dann gleichartig. Davon sei gar nicht die Rede, daß diese gleichen Eigenschaften auch wesentlich seien. Diese Anschauung setzt aber etwas voraus, was durchaus nicht zutrifft. Es ist in zwei Dingen gleicher Gattung gar nichts wirklich Gemeinschaftliches, wenn man bei der Sinnenerfahrung stehen bleibt. Ein Beispiel wird das klarlegen. Das einfachste ist das beste, weil es sich am besten überschauen läßt. Betrachten wir folgende zwei Dreiecke.

Figur 1

Was haben die wirklich gleich, wenn man bei der Sinnenerfahrung stehen bleibt? Gar nichts. Was sie gleich haben, nämlich das Gesetz, nach dem sie gebildet sind und welches bewirkt, daß sie beide unter den Begriff «Dreieck» fallen, das wird von uns erst gewonnen, wenn wir die Sinnenerfahrung überschreiten. Der Begriff «Dreieck» umfaßt alle Dreiecke. Wir kommen nicht durch die bloße Betrachtung aller einzelnen Dreiecke zu ihm. Dieser Begriff bleibt immer derselbe, so oft ich ihn auch vorstellen mag, während es mir wohl kaum gelingen wird, zweimal dasselbe «Dreieck» anzuschauen. Das, wodurch das Einzeldreieck das vollbestimmte «dieses» und kein anderes ist, hat mit dem Begriffe gar nichts zu tun. Ein bestimmtes Dreieck ist dieses bestimmte nicht dadurch, daß es jenem Begriffe entspricht, sondern durch Elemente, die ganz außerhalb des Begriffes liegen: Länge der Seiten, Größe der Winkel, Lage usw. Es ist aber doch ganz unstatthaft zu behaupten, daß der Inhalt des Begriffes «Dreieck» aus der objektiven Sinnenwelt entlehnt sei, wenn man sieht, daß dieser sein Inhalt überhaupt in keiner sinnenfälligen Erscheinung enthalten ist.

3. Es ist nun noch ein Drittes möglich. Der Begriff könnte ja der Vermittler für das Erfassen von Wesenheiten sein, die nicht sinnlichwahrnehmbar sind, die aber doch einen auf sich selbst beruhenden Charakter haben. Der letztere wäre dann der unbegriffliche Inhalt der begrifflichen Form unseres Denkens. Wer solche jenseits der Erfahrung bestehende Wesenheiten annimmt und uns die Möglichkeit eines Wissens von denselben zuspricht, muß doch notwendig auch in dem Begriffe den Dolmetsch dieses Wissens sehen.

Wir werden das Unzulängliche dieser Ansicht noch besonders darlegen. Hier wollen wir nur darauf aufmerksam machen, daß sie jedenfalls nicht gegen die Inhaltlichkeit der Begriffswelt spricht. Denn lägen die Gegenstände, über die gedacht wird, jenseits aller Erfahrung und jenseits des Denkens, dann müßte das letztere doch um so mehr innerhalb seiner selbst den Inhalt haben, auf den es sich stützt. Es könnte doch nicht über Gegenstände denken, von denen innerhalb der Gedankenwelt keine Spur anzutreffen wäre.

Jedenfalls ist also klar, daß das Denken kein inhaltsleeres Gefäß ist, sondern daß es rein für sich selbst genommen inhaltsvoll ist und daß sich sein Inhalt nicht mit dem einer andern Erscheinungsform deckt.