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The Rudolf Steiner Archive

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Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller
GA 2

16. Die organische Natur

Lange Zeit hat die Wissenschaft vor dem Organischen haltgemacht. Sie hielt ihre Methoden nicht für ausreichend, das Leben und seine Erscheinungen zu begreifen. Ja sie glaubte überhaupt, daß jede Gesetzlichkeit, wie eine solche in der unorganischen Natur wirksam ist, hier aufhöre. Was man in der unorganischen Welt zugab, daß uns eine Erscheinung begreiflich wird, wenn wir ihre natürlichen Vorbedingungen kennen, leugnete man hier einfach. Man dachte sich den Organismus nach einem bestimmten Plane des Schöpfers zweckmäßig angelegt. Jedes Organ hätte seine Bestimmung vorgezeichnet; alles Fragen könne sich hier nur darauf beziehen: welches ist der Zweck dieses oder jenes Organes, wozu ist das oder jenes da? Wandte man sich in der unorganischen Welt an die Vorbedingungen einer Sache, so hielt man diese für die Tatsachen des Lebens ganz gleichgültig und legte den Hauptwert auf die Bestimmung eines Dinges. Auch fragte man bei den Prozessen, die das Leben begleiten, nicht so wie bei den physikalischen Erscheinungen nach den natürlichen Ursachen, sondern meinte sie einer besonderen Lebenskraft zuschreiben zu müssen. Was sich da im Organismus bildet, das dachte man sich als das Produkt dieser Kraft, die sich einfach über die sonstigen Naturgesetze hinwegsetzt. Die Wissenschaft wußte eben bis zum Beginne unseres Jahrhunderts mit den Organismen nichts anzufangen. Sie war allein auf das Gebiet der unorganischen Welt beschränkt.

Indem man so die Gesetzmäßigkeit des Organischen nicht in der Natur der Objekte suchte, sondern in dem Gedanken, den der Schöpfer bei ihrer Bildung befolgt, schnitt man sich auch alle Möglichkeit einer Erklärung ab. Wie soll mir jener Gedanke kund werden? Ich bin doch auf das beschränkt, was ich vor mir habe. Enthüllt mir dieses selbst innerhalb meines Denkens seine Gesetze nicht, dann hört meine Wissenschaft eben auf. Von dem Erraten der Pläne, die ein außerhalb stehendes Wesen hatte, kann im wissenschaftlichen Sinne nicht die Rede sein.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts war die Ansicht wohl allgemein noch die herrschende, daß es eine Wissenschaft als Erklärung der Lebenserscheinungen in dem Sinne, wie zum Beispiel die Physik eine erklärende Wissenschaft ist, nicht gebe. Kant hat sogar derselben eine philosophische Begründung zu geben versucht. Er hielt nämlich unseren Verstand für einen solchen, der nur von dem Besonderen auf das Allgemeine gehen könne. Das Besondere, die Einzeldinge, seien ihm gegeben und daraus abstrahiere er seine allgemeinen Gesetze. Diese Art des Denkens nennt Kant diskursiv und hält sie für die allein dem Menschen zukommende. Daher gibt es nach seiner Ansicht nur von den Dingen eine Wissenschaft, wo das Besondere an und für sich genommen ganz begrifflos ist und nur unter einen abstrakten Begriff subsumiert wird. Bei den Organismen fand Kant diese Bedingung nicht erfüllt. Hier verrät die einzelne Erscheinung eine zweckmäßige, das ist begriffsmäßige Einrichtung. Das Besondere trägt Spuren des Begriffes an sich. Solche Wesen aber zu begreifen fehlt uns, nach der Anschauung des Königsberger Philosophen, jede Anlage. Wir können nur da verstehen, wo Begriff und Einzelding getrennt sind; jener ein Allgemeines, dieses ein Besonderes darstellt. Es bleibt uns also nichts übrig als unseren Beobachtungen der Organismen die Idee der Zweckmäßigkeit zugrunde zu legen; die Lebewesen zu behandeln, als ob ihren Erscheinungen ein System von Absichten zugrunde liege. Kant also hat die Unwissenschaftlichkeit hier gleichsam wissenschaftlich begründet.

Goethe hat nun gegen solch unwissenschaftliches Gebaren entschieden protestiert. Er konnte nie einsehen, warum unser Denken nicht auch ausreichen sollte, bei einem Organe eines Lebewesens zu fragen: woher entspringt es, statt wozu dient es. Das lag in seiner Natur, die ihn stets drängte, jedes Wesen in seiner inneren Vollkommenheit zu erblicken. Es schien ihm eine unwissenschaftliche Betrachtungsweise, welche sich nur um die äußere Zweckmäßigkeit eines Organes, das heißt um dessen Nutzen für ein anderes kümmert. Was soll das mit der inneren Wesenheit eines Dinges zu tun haben? Darauf kommt es ihm nie an, wozu etwas nützt; stets nur darauf, wie es sich entwickelt. Nicht als abgeschlossenes Ding will er ein Objekt betrachten, sondern in seinem Werden, damit er erkenne, welchen Ursprunges es ist. An Spinoza zog ihn besonders an, daß dieser die äußerliche Zweckmäßigkeit der Organe und Organismen nicht gelten ließ. Goethe forderte für das Erkennen der organischen Welt eine Methode, die genau in dem Sinne wissenschaftlich ist, wie es die ist, die wir auf die unorganische Welt anwenden.

Zwar nicht in so genialer Weise wie bei ihm, aber nicht minder dringend trat das Bedürfnis nach einer solchen Methode in der Naturwissenschaft immer wieder auf. Heute zweifelt wohl nur mehr ein sehr kleiner Bruchteil der Forscher an der Möglichkeit derselben. Ob aber die Versuche, die man hie und da gemacht, eine solche einzuführen, geglückt sind, das ist allerdings eine andere Frage.

Man hat da vor allem einen großen Irrtum begangen. Man glaubte die Methode der unorganischen Wissenschaft in das Organismenreich einfach herübernehmen zu sollen. Man hielt die hier angewendete Methode überhaupt für die einzig wissenschaftliche und dachte, wenn die Organik wissenschaftlich möglich sein soll, dann müsse sie es genau in dem Sinne sein, in dem es die Physik zum Beispiel ist. Die Möglichkeit aber, daß vielleicht der Begriff der Wissenschaftlichkeit ein viel weiterer sei als: «die Erklärung der Welt nach den Gesetzen der physikalischen Welt», vergaß man. Auch heute ist man bis zu dieser Erkenntnis noch nicht durchgedrungen. Statt zu untersuchen, worauf denn eigentlich die Wissenschaftlichkeit der unorganischen Wissenschaften beruht, und dann nach einer Methode zu suchen, die sich unter Festhaltung der sich hieraus ergebenden Anforderungen auf die Lebewelt anwenden läßt, erklärt man einfach die auf jener unteren Stufe des Daseins gewonnenen Gesetze für universell.

Man sollte aber vor allem untersuchen, worauf das wissenschaftliche Denken überhaupt beruht. Wir haben das in unserer Abhandlung getan. Wir haben im vorigen Kapitel auch erkannt, daß die unorganische Gesetzlichkeit nicht ein einzig Dastehendes ist, sondern nur ein Spezialfall von aller möglichen Gesetzmäßigkeit überhaupt. Die Methode der Physik ist einfach ein besonderer Fall einer allgemeinen wissenschaftlichen Forschungsweise, wobei auf die Natur der in Betracht kommenden Gegenstände, auf das Gebiet, dem diese Wissenschaft dient, Rücksicht genommen ist. Wird diese Methode auf das Organische ausgedehnt, dann löscht man die spezifische Natur des letzteren aus. Statt das Organische seiner Natur gemäß zu erforschen, drängt man ihm eine ihm fremde Gesetzmäßigkeit auf. So aber, indem man das Organische leugnet, wird man es nie erkennen. Ein solches wissenschaftliches Gebaren wiederholt einfach das, was es auf einer niederen Stufe gewonnen, auf einer höheren; und während es glaubt, die höhere Daseinsform unter die anderweitig fertiggestellten Gesetze zu bringen, entschlüpft ihm diese Form unter seiner Bemühung, weil es sie in ihrer Eigentümlichkeit nicht festzuhalten und zu behandeln weiß.

Alles das kommt von der irrtümlichen Ansicht, die da glaubt, die Methode einer Wissenschaft sei ein den Gegenständen derselben Äußerliches, nicht von diesen, sondern von unserer Natur Bedingtes. Man glaubt, man müsse in einer bestimmten Weise über die Objekte denken, und zwar über alle - über das ganze Universum - in gleicher Weise. Man stellt Untersuchungen an, die da zeigen sollen: wir könnten vermöge der Natur unseres Geistes nur induktiv, nur deduktiv usw. denken.

Dabei übersieht man aber, daß die Objekte die Betrachtungsweise, die wir ihnen da vindizieren wollen, vielleicht gar nicht vertragen.

Daß der Vorwurf, den wir der organischen Naturwissenschaft unserer Tage machen: sie übertrage auf die organische Natur nicht das Prinzip wissenschaftlicher Betrachtungsweise überhaupt, sondern das der unorganischen Natur, vollauf berechtigt ist, lehrt uns ein Blick auf die Ansichten des gewiß bedeutendsten der naturforschenden Theoretiker der Gegenwart, Haeckels.

Wenn er von allem wissenschaftlichen Bestreben fordert, daß «der ursächliche Zusammenhang der Erscheinungen überall zur Geltung komme», wenn er sagt: «Wenn die psychische Mechanik nicht so unendlich zusammengesetzt wäre, wenn wir imstande wären, auch die geschichtliche Entwicklung der psychischen Funktionen vollständig zu übersehen, so würden wir sie alle in eine mathematische Seelenformel bringen können», so sieht man daraus deutlich, was er will: die gesamte Welt nach der Schablone der physikalischen Methode behandeln.

Diese Forderung liegt aber auch dem Darwinismus nicht in seiner ursprünglichen Gestalt, sondern in seiner heutigen Deutung zugrunde. Wir haben gesehen, daß in der unorganischen Natur einen Vorgang erklären heißt: sein gesetzmäßiges Hervorgehen aus anderen sinnenfälligen Wirklichkeiten zu zeigen, ihn von Gegenständen, die wie er der sinnlichen Welt angehören, ableiten. Wie verwendet die heutige Organik aber das Prinzip der Anpassung und des Kampfes ums Dasein, die beide als der Ausdruck eines Tatbestandes von uns gewiß nicht angezweifelt werden sollen? Man glaubt geradezu den Charakter einer bestimmten Art aus den äußeren Verhältnissen, in denen sie gelebt, ebenso ableiten zu können, wie etwa die Erwärmung eines Körpers aus den auffallenden Sonnenstrahlen. Man vergißt vollständig, daß man jenen Charakter seinen inhaltsvollen Bestimmungen nach nie als eine Folge dieser Verhältnisse aufweisen kann, Die Verhältnisse mögen einen bestimmenden Einfluß haben, eine erzeugende Ursache sind sie nicht. Wir sind wohl imstande zu sagen: Unter dem Eindrucke dieses oder jenes Tatbestandes mußte sich eine Art so entwickeln, daß sich dieses oder jenes Organ besonders ausbildete; das Inhaltliche aber, das Spezifisch-Organische läßt sich aus äußeren Verhältnissen nicht ableiten. Ein organisches Wesen hätte die wesentlichen Eigenschaften abc; nun ist es unter dem Einflusse bestimmter äußerer Verhältnisse zur Entwicklung gelangt. Daher haben seine Eigenschaften die besondere Gestalt a' b' c' angenommen. Wenn wir diese Einflüsse in Erwägung ziehen, so werden wir begreifen, daß sich a in der Form von a' entwickelt hat, b in b', c in c'. Aber die spezifische Natur des a, b und c kann sich uns nimmermehr als Ergebnis äußerer Verhältnisse ergeben.

Man muß vor allem sein Denken darauf richten: woher nehmen wir denn den Inhalt desjenigen Allgemeinen, als dessen Spezialfall wir das einzelne organische Wesen ansehen? Wir wissen ganz gut, daß die Spezialisierung von der Einwirkung von außen kommt, Aber die spezialisierte Gestalt selbst müssen wir aus einem inneren Prinzip ableiten. Daß sich gerade diese besondere Form entwickelt hat, darüber gewinnen wir Aufschluß, wenn wir die Umgebung eines Wesens studieren. Nun aber ist diese besondere Form doch an und für sich etwas; wir erblicken sie mit gewissen Eigenschaften. Wir sehen, worauf es ankommt. Es tritt der äußeren Erscheinung ein in sich gestalteter Inhalt gegenüber, der uns das an die Hand gibt, was wir brauchen, um jene Eigenschaften abzuleiten. In der unorganischen Natur nehmen wir eine Tatsache wahr und suchen behufs ihrer Erklärung eine zweite, eine dritte und so weiter; und das Ergebnis ist, jene erste erscheint uns als die notwendige Folge der letzteren. In der organischen Welt ist es nicht so. Hier bedürfen wir außer den Tatsachen noch eines Faktors. Wir müssen den Einwirkungen der äußeren Umstände etwas zugrunde legen, das sich nicht passiv von jenen bestimmen läßt, sondern sich aktiv aus sich selbst unter dem Einflusse jener bestimmt.

Was ist aber diese Grundlage? Es kann doch nichts sein als das, was im Besonderen erscheint in der Form der Allgemeinheit. Im Besonderen erscheint aber immer ein bestimmter Organismus. Jene Grundlage ist daher ein Organismus in der Form der Allgemeinheit. Ein allgemeines Bild des Organismus, das alle besonderen Formen desselben in sich begreift.

Wir wollen nach dem Vorgange Goethes diesen allgemeinen Organismus Typus nennen. Mag das Wort Typus seiner sprachlichen Entwicklung nach was immer noch bedeuten; wir gebrauchen es in diesem Goetheschen Sinne und denken dabei nie etwas anderes als das Angegebene. Dieser Typus ist in keinem Einzelorganismus in aller seiner Vollkommenheit ausgebildet. Nur unser vernunftgemäßes Denken ist imstande, sich desselben zu bemächtigen, indem es ihn als allgemeines Bild aus den Erscheinungen abzieht. Der Typus ist somit die Idee des Organismus: die Tierheit im Tiere, die allgemeine Pflanze in der speziellen.

Man darf sich unter diesem Typus nichts Festes vorstellen. Er hat ganz und gar nichts zu tun mit dem, was Agassiz, Darwins bedeutendster Bekämpfer, einen «verkörperten Schöpfungsgedanken Gottes» nannte. Der Typus ist etwas durchaus Flüssiges, aus dem sich alle besonderen Arten und Gattungen, die man als Untertypen, spezialisierte Typen ansehen kann, ableiten lassen. Der Typus schließt die Deszendenztheorie nicht aus. Er widerspricht nicht der Tatsache, daß sich die organischen Formen auseinander entwickeln. Er ist nur der vernunftgemäße Protest dagegen, daß die organische Entwicklung rein in den nacheinander auftretenden, tatsächlichen (sinnlich wahrnehmbaren) Formen aufgeht. Er ist dasjenige, was dieser ganzen Entwicklung zugrunde liegt. Er ist es, der den Zusammenhang in dieser unendlichen Mannigfaltigkeit herstellt. Er ist das Innerliche von dem, was wir als äußerliche Formen der Lebewesen erfahren. Die Darwinsche Theorie setzt den Typus voraus.

Der Typus ist der wahre Urorganismus; je nachdem er sich ideell spezialisiert: Urpflanze oder Urtier. Kein einzelnes, sinnlichwirkliches Lebewesen kann es sein. Was Haeckel oder andere Naturalisten als Urform ansehen, ist schon eine besondere Gestalt; ist eben die einfachste Gestalt des Typus. Daß er zeitlich zuerst in einfachster Form auftritt, bedingt nicht, daß die zeitlichfolgenden Formen sich als Folge der zeitlichvorangehenden ergeben. Alle Formen ergeben sich als Folge des Typus, die erste wie die letzte sind Erscheinungen desselben. Ihn müssen wir einer wahren Organik zugrunde legen und nicht einfach die einzelnen Tier- und Pflanzenarten auseinander ableiten wollen. Wie ein roter Faden zieht sich der Typus durch alle Entwicklungsstufen der organischen Welt. Wir müssen ihn festhalten und dann mit ihm dieses große, verschiedengestaltige Reich durchwandern. Dann wird es uns verständlich. Sonst zerfällt es uns wie die ganze übrige Erfahrungswelt in eine zusammenhanglose Menge von Einzelheiten. Ja selbst wenn wir glauben, Späteres, Komplizierteres, Zusammengesetzteres auf eine ehemalige einfachere Form zurückzuführen und in dem letzteren ein Ursprüngliches zu haben, so täuschen wir uns, denn wir haben nur Spezialform von Spezialform abgeleitet.

Friedrich Theodor Vischer hat einmal in bezug auf die Darwinsche Theorie die Ansicht ausgesprochen, daß sie eine Revision unseres Zeitbegriffes notwendig mache. Wir sind hier an einem Punkt angekommen, der uns ersichtlich macht, in welchem Sinne eine solche Revision zu geschehen hätte. Sie hätte zu zeigen, daß die Herleitung eines Späteren aus einem Früheren keine Erklärung ist, daß das Zeitlich-Erste kein Prinzipiell-Erstes ist. Alle Ableitung hat aus einem Prinzipiellen zu geschehen und höchstens wäre zu zeigen, welche Faktoren wirksam waren, daß sich die eine Wesensart zeitlich vor der anderen entwickelt hat.

Der Typus spielt in der organischen Welt dieselbe Rolle wie das Naturgesetz in der unorganischen. Wie dieses uns die Möglichkeit an die Hand gibt, jedes einzelne Geschehen als das Glied eines großen Ganzen zu erkennen, so setzt uns der Typus in die Lage, den einzelnen Organismus als eine besondere Form der Urgestalt anzusehen.

Wir haben bereits darauf hingedeutet, daß der Typus keine abgeschlossene eingefrorene Begriffsform ist, sondern daß er flüssig ist, daß er die mannigfaltigsten Gestaltungen annehmen kann, Die Zahl dieser Gestaltungen ist eine unendliche, weil dasjenige, wodurch die Urform eine einzelne, besondere ist, für die Urform selbst keine Bedeutung hat. Es ist gerade so, wie ein Naturgesetz unendlich viele einzelne Erscheinungen regelt, weil die speziellen Bestimmungen, die in dem einzelnen Falle auftreten, mit dem Gesetze nichts zu tun haben.

Doch.handelt es sich um etwas wesentlich anderes als in der unorganischen Natur. Dort handelte es sich darum, zu zeigen, daß eine bestimmte sinnenfällige Tatsache so und nicht anders erfolgen kann,weil dieses oder jenes Naturgesetz besteht.Jene Tatsache und das Gesetz stehen sich als zweigetrennte Faktoren gegenüber, und es bedarf weiter gar keiner geistigen Arbeit, als daß wir uns, wenn wir eines Faktums ansichtig werden, des Gesetzes erinnern, das maßgebend ist. Bei einem Lebewesen und seinen Erscheinungen ist das anders. Da handelt es sich darum, die einzelne Form, die in unserer Erfahrung auftritt, aus dem Typus heraus, den wir erfaßt haben müssen, zu entwickeln. Wir müssen einen geistigen Prozeß wesentlich anderer Art vollziehen. Wir dürfen den Typus nicht als etwas Fertiges wie das Naturgesetz einfach der einzelnen Erscheinung gegenüberstellen.

Daß jeder Körper, wenn er durch keine nebensächlichen Umstände gehindert wird, so zur Erde fällt, daß sich die in den aufeinanderfolgenden Zeiten durchlaufenen Wege verhalten wie 1 :3:5:7 usw., ist ein einmal fertiges, bestimmtes Gesetz. Es ist ein Urphänomen, welches auftritt, wenn zwei Massen (Erde, Körper auf derselben) in gegenseitige Beziehung treten. Tritt nun ein spezieller Fall in das Feld unserer Beobachtung ein, auf den dieses Gesetz Anwendung findet, so brauchen wir nur die sinnlich beobachtbaren Tatsachen in jener Beziehung zu betrachten, die das Gesetz an die Hand gibt, und wir werden es bestätigt finden. Wir führen den einzelnen Fall auf das Gesetz zurück. Das Naturgesetz spricht den Zusammenhang der in der Sinnenwelt getrennten Tatsachen aus; es bleibt aber als solches gegenüber der einzelnen Erscheinung bestehen. Beim Typus müssen wir aus der Urform jenen besonderen Fall, der uns vorliegt, heraus entwickeln. Wir dürfen den Typus der einzelnen Gestalt nicht gegenüberstellen, um zu sehen, wie er die letztere regelt; wir müssen sie aus demselben hervorgehen lassen. Das Gesetz beherrscht die Erscheinung als ein über ihr Stehendes; der Typus fließt in das einzelne Lebewesen ein; er identifiziert sich mit ihm.

Eine Organik muß daher, wenn sie in dem Sinne Wissenschaft sein will, wie es die Mechanik oder die Physik ist, den Typus als allgemeinste Form und dann auch in verschiedenen ideellen Sondergestalten zeigen. Die Mechanik ist ja auch eine Zusammenstellung der verschiedenen Naturgesetze, wobei die realen Bedingungen durchweg hypothetisch angenommen sind. Nicht anders müßte es in der Organik sein. Auch hier müßte man hypothetisch bestimmte Formen, in denen sich der Typus ausbildet, annehmen, wenn man eine rationelle Wissenschaft haben wollte. Man müßte dann zeigen, wie diese hypothetischen Gestaltungen stets auf eine bestimmte, unserer Beobachtung vorliegende Form gebracht werden können.

Wie wir im Unorganischen eine Erscheinung auf ein Gesetz zurückführen, so entwickeln wir hier eine Spezialform aus der Urform. Nicht durch äußerliche Gegenüberstellung von Allgemeinem und Besonderem kommt die organische Wissenschaft zustande, sondern durch Entwicklung der einen Form aus der andern.

Wie die Mechanik ein System von Naturgesetzen ist, so soll die Organik eine Folge von Entwicklungsformen des Typus sein. Nur daß wir dort die einzelnen Gesetze zusammenstellen und zu einem Ganzen ordnen, während wir hier die einzelnen Formen lebendig auseinander hervorgehen lassen müssen.

Da ist ein Einwand möglich. Wenn die typische Form etwas durchaus Flüssiges ist, wie ist es da überhaupt möglich, eine Kette aneinandergereihter besonderer Typen als den Inhalt einer Organik aufzustellen? Man kann sich wohl vorstellen, daß man in jedem besonderen Falle, den man beobachtet, eine spezielle Form des Typus erkennt, aber man kann doch zum Behufe der Wissenschaft nicht bloß solche wirklich beobachtete Fälle zusammentragen.

Man kann aber etwas anderes. Man kann den Typus seine Reihe der Möglichkeiten durchlaufen lassen und dann immer diese oder jene Form (hypothetisch) festhalten. So erlangt man eine Reihe von gedanklich aus dem Typus abgeleiteten Formen als den Inhalt einer rationellen Organik.

Es ist eine Organik möglich, die ganz in dem strengsten Sinne Wissenschaft ist wie die Mechanik. Ihre Methode ist nur eine andere. Die Methode der Mechanik ist die beweisende. Jeder Beweis stützt sich auf eine gewisse Regel. Es besteht immer eine bestimmte Voraussetzung (d. h. es sind erfahrungsmögliche Bedingungen angegeben) und dann wird bestimmt, was eintritt, wenn diese Voraussetzungen statthaben. Wir begreifen dann eine einzelne Erscheinung unter Zugrundelegung des Gesetzes. Wir denken so: unter diesen Bedingungen tritt eine Erscheinung ein; die Bedingungen sind da, deswegen muß die Erscheinung eintreten. Das ist unser Gedankenprozeß, wenn wir an ein Ereignis der unorganischen Welt herantreten, um es zu erklären. Das ist die beweisende Methode. Sie ist wissenschaftlich, weil sie eine Erscheinung vollständig mit dem Begriffe durchtränkt, weil sich durch sie Wahrnehmung und Denken decken.

Mit dieser beweisenden Methode können wir aber in der Wissenschaft des Organischen nichts anfangen. Der Typus bestimmt eben nicht, daß unter gewissen Bedingungen eine bestimmte Erscheinung eintritt; er setzt nichts über ein Verhältnis von Gliedern, die einander fremd, äußerlich gegenüberstehen, fest. Er bestimmt nur die Gesetzmäßigkeit seiner eigenen Teile. Er weist nicht wie das Naturgesetz über sich hinaus. Es können die besonderen organischen Formen also nur aus der allgemeinen Typusgestalt heraus entwickelt werden, und die in der Erfahrung auftretenden organischen Wesen müssen mit irgendeiner solchen Ableitungsform des Typus zusammenfallen. An die Stelle der beweisenden Methode muß hier die entwickelnde treten. Nicht daß die äußeren Bedingungen in dieser Weise aufeinander wirken und daher ein bestimmtes Ergebnis haben, wird hier festgestellt, sondern daß sich unter bestimmten äußeren Verhältnissen eine besondere Gestalt aus dem Typus herausgebildet hat. Das ist der durchgreifende Unterschied zwischen unorganischer und organischer Wissenschaft. Keiner Forschungsweise liegt er in so konsequenter Weise zugrunde wie der Goetheschen. Niemand hat so wie Goethe erkannt, daß eine organische Wissenschaft ohne allen dunklen Mystizismus, ohne Teleologie, ohne Annahme besonderer Schöpfungsgedanken möglich sein muß. Keiner aber auch hat bestimmter die Zumutung von sich gewiesen, mit den Methoden der unorganischen Naturwissenschaft hier etwas anzufangen.

Der Typus ist, wie wir gesehen haben, eine vollere wissenschaftliche Form als das Urphänomen. Er setzt auch eine intensivere Tätigkeit unseres Geistes voraus als jenes. Bei dem Nachdenken über die Dinge der unorganischen Natur gibt uns die Wahrnehmung der Sinne den Inhalt an die Hand. Es ist unsere sinnliche Organisation, die uns hier schon das liefert, was wir im Organischen nur durch den Geist empfangen. Um Süß, Sauer, Wärme, Kälte, Licht, Farbe usw. wahrzunehmen, braucht man nur gesunde Sinne. Wir haben da im Denken zu dem Stoffe nur die Form zu finden. Im Typus aber sind Inhalt und Form enge aneinander gebunden. Deshalb bestimmt der Typus ja nicht rein formell wie das Gesetz den Inhalt, sondern er durchdringt ihn lebendig, von innen heraus, als seinen eigenen. An unseren Geist tritt die Aufgabe heran, zugleich mit dem Formellen produktiv an der Erzeugung des Inhaltlichen teilzunehmen.

Man hat von jeher eine Denkungsart, welcher der Inhalt mit dem Formellen in unmittelbarem Zusammenhange erscheint, eine intuitive genannt.

Wiederholt tritt die Intuition als wissenschaftliches Prinzip auf. Der englische Philosoph Reid nennt eine Intuition, daß wir aus der Wahrnehmung der äußeren Erscheinungen (Sinneseindrücke) zugleich die Überzeugung von dem Sein derselben schöpften. Jacobi vermeinte, in unserem Gefühle von Gott sei uns nicht nur dieses selbst, sondern zugleich die Bürgschaft dafür gegeben, daß Gott ist. Auch dieses Urteil nennt man intuitiv. Das Charakteristische ist, wie man sieht, immer, daß in dem Inhaltlichen stets mehr gegeben sein soll als dieses selbst, daß man von einer gedanklichen Bestimmung weiß, ohne Beweis, bloß durch unmittelbare Überzeugung. Man glaubt, daß man die Gedankenbestimmungen «Sein» usw. von dem Wahrnehmungsstoffe nicht beweisen zu müssen glaubt, sondern daß man sie in ungetrennter Einheit mit dem Inhalte besitzt.

Das ist aber beim Typus wirklich der Fall. Daher kann er kein Mittel des Beweises liefern, sondern bloß die Möglichkeit an die Hand geben, jede besondere Form aus sich zu entwickeln. Unser Geist muß demnach in dem Erfassen des Typus viel intensiver wirken als beim Erfassen des Naturgesetzes. Er muß mit der Form den Inhalt erzeugen. Er muß eine Tätigkeit auf sich nehmen, die in der unorganischen Naturwissenschaft die Sinne besorgen und die wir Anschauung nennen. Auf dieser höheren Stufe muß also der - Geist selbst anschauend sein. Unsere Urteilskraft muß denkend anschauen und anschauend denken. Wir haben es hier, wie Goethe zum erstenmal auseinandergesetzt, mit einer anschauenden Urteilskraft zu tun. Goethe hat hiermit im menschlichen Geiste das als notwendige Auffassungsform nachgewiesen, wovon Kant bewiesen haben wollte, daß es dem Menschen seiner ganzen Anlage nach nicht zukomme.

Vertritt der Typus in der organischen Natur das Naturgesetz (Urphänomen) der unorganischen, so vertritt die Intuition (anschauende Urteilskraft) die beweisende (reflektierende) Urteilskraft. Wie man geglaubt hat, dieselben Gesetze auf die organische Natur anwenden zu können, die für eine niedere Erkenntnisstufe maßgebend sind, so vermeinte man auch, dieselbe Methode gelte hier wie dort. Beides ist ein Irrtum.

Man hat die Intuition oft sehr geringschätzend in der Wissenschaft behandelt. Man hat es für einen Mangel des Goetheschen Geistes angesehen, daß er mit der Intuition wissenschaftliche Wahrheiten erreichen wollte. Was auf intuitivem Wege erreicht wird, halten viele zwar für sehr wichtig, wenn es sich um eine wissenschaftliche Entdeckung handelt. Da, sagt man, führt ein Einfall oft weiter als methodisch geschultes Denken. Denn man nennt es ja häufig Intuition, wenn jemand durch Zufall ein Richtiges getroffen, von dessen Wahrheit sich der Forscher erst auf Umwegen überzeugt. Stets wird aber geleugnet, daß die Intuition selbst ein Prinzip der Wissenschaft sein könne. Was der Intuition beigefallen, müsse nachträglich erst erwiesen werden - so denkt man - wenn es wissenschaftlichen Wert haben soll.

So hat man auch Goethes wissenschaftliche Errungenschaften für geistreiche Einfälle gehalten, die erst nachher durch die strenge Wissenschaft ihre Beglaubigung erhalten haben.

Für die organische Wissenschaft ist aber die Intuition die richtige Methode. Aus unseren Ausführungen geht, denken wir, ganz deutlich hervor, daß Goethes Geist gerade deshalb, weil er auf Intuition angelegt war, im Organischen den rechten Weg gefunden hat. Die der Organik eigene Methode fiel zusammen mit der Konstitution seines Geistes. Dadurch wurde ihm nur um so klarer, inwiefern sie sich von der unorganischen Naturwissenschaft unterscheidet. Das eine wurde ihm am andern klar. Er zeichnete daher auch mit scharfen Strichen das Wesen des Unorganischen.

Zu der geringschätzenden Art, mit der man die Intuition behandelt, trägt nicht wenig bei, daß man ihren Errungenschaften nicht jenen Grad von Glaubwürdigkeit beilegen zu können meint wie den der beweisenden Wissenschaften. Man nennt oft allein, was man bewiesen hat, Wissen, alles übrige Glaube.

Man muß bedenken, daß die Intuition etwas ganz anderes bedeutet innerhalb unserer wissenschaftlichen Richtung, die davon überzeugt ist, daß wir im Denken den Kern der Welt wesenhaft erfassen, und jener, die den letzteren in ein uns unerforschbares Jenseits verlegt. Wer in der uns vorliegenden Welt, soweit wir sie entweder erfahren oder mit unserem Denken durchdringen, nichts weiter sieht als einen Abglanz, ein Bild von einem Jenseitigen, einem Unbekannten, Wirkenden, das hinter dieser Hülle nicht nur für den

ersten Blick, sondern aller wissenschaftlichen Forschung zum Trotz verborgen bleibt, der kann allerdings nur in der beweisenden Methode einen Ersatz für die mangelnde Einsicht in das Wesen der Dinge erblicken. Da er nicht bis zu der Ansicht durchdringt, daß eine Gedankenverbindung unmittelbar durch den im Gedanken gegebenen wesenhaften Inhalt, also durch die Sache selbst zustande kommt, so glaubt er sie nur dadurch stützen zu können, daß sie mit einigen Grundüberzeugungen (Axiomen) im Einklange steht, die so einfach sind, daß sie eines Beweises weder fähig sind, noch eines solchen bedürfen. Wird ihm dann eine wissenschaftliche Behauptung ohne Beweis gegeben, ja eine solche, die ihrer ganzen Natur nach die beweisende Methode ausschließt, dann erscheint sie ihm als von außen aufgedrängt; es tritt eine Wahrheit an ihn heran, ohne daß er erkennt, welches die Gründe ihrer Gültigkeit sind. Er glaubt, nicht ein Wissen, nicht eine Einsicht in die Sache zu haben, er glaubt, er könne sich nur einem Glauben hingeben, daß außerhalb seines Denkvermögens irgendwelche Gründe für ihre Gültigkeit bestehen.

Unsere Weltansicht ist der Gefahr nicht ausgesetzt, daß sie die Grenzen der beweisenden Methode zugleich als die Grenzen wissenschaftlicher Überzeugung ansehen muß. Sie hat uns zu der Ansicht geführt, daß der Kern der Welt in unser Denken einfließt, daß wir nicht nur über das Wesen der Welt denken, sondern daß das Denken ein Zusammengehen mit dem Wesen der Wirklichkeit ist. Uns wird mit der Intuition nicht eine Wahrheit von außen aufgedrängt, weil es für unseren Standpunkt ein Außen und Innen in jener Weise, wie es die von uns eben gekennzeichnete, der unserigen entgegengesetzte wissenschaftliche Richtung annimmt, nicht gibt. Für uns ist die Intuition ein unmittelbares Innesein, ein Eindringen in die Wahrheit, die uns alles gibt, was überhaupt in Ansehung ihrer in Betracht kommt. Sie geht ganz in dem auf, was uns in unserem intuitiven Urteile gegeben ist. Das Charakteristische, auf das es beim Glauben ankommt, daß uns nur die fertige Wahrheit gegeben ist und nicht die Gründe, und daß uns der durchdringende Einblick in die in Betracht kommende Sache abgeht, fehlt hier gänzlich. Die auf dem Wege der Intuition gewonnene Einsicht ist gerade so wissenschaftlich wie die bewiesene.

Jeder Einzelorganismus ist die Ausgestaltung des Typus in einer besonderen Form. Er ist eine Individualität, die sich aus einem Zentrum heraus selbst regelt und bestimmt. Er ist eine in sich geschlossene Ganzheit, was in der unorganischen Natur erst der Kosmos ist.

Das Ideal der unorganischen Wissenschaft ist: die Totalität aller Erscheinungen als einheitliches System zu erfassen, damit wir jeder Einzelerscheinung mit dem Bewußtsein gegenübertreten: wir erkennen sie als Glied des Kosmos. In der organischen Wissenschaft muß dagegen Ideal sein, in dem Typus und seinen Erscheinungsformen dasjenige in möglichster Vollkommenheit zu haben, was wir in der Reihe der Einzelwesen sich entwickeln sehen. Die Hindurchführung des Typus durch alle Erscheinungen ist hier das Maßgebende. In der unorganischen Wissenschaft besteht das System, in der Organik die Vergleichung (jeder einzelnen Form mit dem Typus).

Die Spektralanalyse und die Vervollkommnung der Astronomie dehnen die auf dem beschränkten Gebiete des Irdischen gewonnenen Wahrheiten auf das Weltganze aus. Damit nähern sie sich dem ersten Ideal. Das zweite wird erfüllt werden, wenn die von Goethe angewendete vergleichende Methode in ihrer Tragweite erkannt wird.