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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Friedrich Nietzsche
GA 5

2. Der Übermensch

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Alles Streben des Menschen besteht, wie das eines jeden Lebewesens, darin, von der Natur eingepflanzte Triebe und Instinkte in der besten Weise zu befriedigen. Wenn die Menschen nach Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst streben, so geschieht dies deshalb, weil Tugend, Gerechtigkeit und so weiter Mittel sind, durch die die menschlichen Instinkte sich so entwickeln können, wie es deren Natur entsprechend ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel verkümmern. Es ist nun eine Eigentümlichkeit des Menschen, dass er diesen Zusammenhang seiner Lebensbedingungen mit seinen natürlichen Trieben vergisst und jene Mittel zu einem naturgemäßen, machtvollen Leben als etwas ansieht, das an sich einen unbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann: Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis und so weiter müssen um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie haben nicht dadurch einen Wert, dass sie dem Leben dienen, sondern vielmehr das Leben erhalte erst einen Wert dadurch, dass es nach jenen idealen Gütern strebt. Der Mensch sei nicht dazu da, nach Maßgabe seiner Instinkte zu leben, wie das Tier; sondern er solle seine Instinkte dadurch adeln, dass er sie in den Dienst höherer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt der Mensch dazu, das, was er selbst erst zur Befriedigung seiner Triebe geschaffen hat, als Ideale anzubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe geben. Er fordert Unterwerfung unter die Ideale, die er höher schätzt, als sich selbst. Er löst sich los von dem Mutterboden der Wirklichkeit und will seinem Dasein einen höheren Sinn und Zweck geben. Er erfindet einen unnatürlichen Ursprung für seine Ideale. Er nennt sie den «Willen Gottes», die «ewigen sittlichen Gebote». Er will die «Wahrheit um der Wahrheit willen», «die Tugend um der Tugend willen» anstreben. Er betrachtet sich als einen guten Menschen erst dann, wenn es ihm angeblich gelungen ist, seine Selbstsucht, das heißt seine natürlichen Instinkte zu bändigen und selbstlos einem idealen Ziele zu folgen. Einem solchen Idealisten gilt der Mensch als unedel und «böse», der es bis zu solcher Selbstüberwindung nicht gebracht hat.

Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus natürlichen Instinkten. Auch was der Christ als Tugend ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat, ist ursprünglich von Menschen erfunden, um irgendwelche Instinkte zu befriedigen. Der natürliche Ursprung ist vergessen und der göttliche hinzugedichtet worden. Ähnlich verhält es sich mit den Tugenden, die die Philosophen und Moralprediger aufstellen.

Wenn die Menschen bloß gesunde Instinkte hätten und diesen gemäß ihre Ideale bestimmten, so würde der theoretische Irrtum über den Ursprung dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten hätten zwar falsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele, aber diese Ziele selbst wären gesund, und das Leben müsste gedeihen. Aber es gibt ungesunde Instinkte, die nicht auf Stärkung, Förderung des Lebens, sondern auf dessen Schwächung, Verkümmerung abzielen. Diese bemächtigen sich des genannten theoretischen Irrtums und machen ihn zum praktischen Lebenszwecke. Sie verleiten den Menschen, zu sagen: ein vollkommener Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst, seinem Leben dienen will, sondern derjenige, der sich der Verwirklichung eines Ideals hingibt. Unter dem Einfluss dieser Instinkte bleibt der Mensch nicht bloß dabei stehen, irrtümlich seinen Zielen einen un- oder übernatürlichen Ursprung anzudichten, sondern er macht sich wirklich solche Ideale zurecht oder übernimmt sie von anderen, die nicht den Bedürfnissen des Lebens dienen. Er strebt nicht mehr darnach, die in seiner Persönlichkeit liegenden Kräfte ans Tageslicht zu ziehen, sondern er lebt nach einem seiner Natur aufgezwungenen Musterbilde. Ob er dieses Ziel einer Religion entnimmt, oder ob er es selbst auf Grund gewisser, nicht in seiner Natur liegenden Voraussetzungen bestimmt: darauf kommt es nicht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen Zweck der Menschheit im Auge hat und aus diesem seine sittlichen Ideale ableitet, legt der menschlichen Natur ebenso Fesseln an, wie der Religionsstifter, der den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch Gott gesetzt hat; und dem müsst ihr folgen. Es ist auch gleichgültig, ob der Mensch sich vorsetzt, ein Ebenbild Gottes zu werden, oder ob er ein Ideal des «vollkommenen Menschen» erfindet und diesem möglichst ähnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne Mensch und die Triebe und Instinkte dieses einzelnen Menschen. Nur wenn er auf die Bedürfnisse seiner eigenen Person sein Augenmerk richtet, kann der Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der einzelne Mensch wird nicht «vollkommen», wenn er sich verleugnet und einem Vorbilde ähnlich wird, sondern wenn er das verwirklicht, was in ihm zur Verwirklichung drängt. Die menschliche Tätigkeit erhält nicht erst einen Sinn, wenn sie einem unpersönlichen, äußeren Zwecke dient; sie hat ihren Sinn in sich selbst.

Der Anti-Idealist wird zwar auch in der ungesunden Abkehr des Menschen von seinen ureigenen Instinkten noch eine Instinktäußerung erblicken. Er weiß, dass der Mensch selbst das Instinktwidrige nur aus Instinkt vollbringen kann. Er wird aber doch die Instinktwidrigkeit bekämpfen, wie der Arzt eine Krankheit bekämpft, trotzdem er weiß, dass sie naturgemäß aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es darf also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf gemacht werden: du behauptest, alles, was der Mensch erstrebt, also auch alle Ideale, seien naturgemäß entstanden; dennoch bekämpfst du den Idealismus. Gewiss entstehen Ideale ebenso naturgemäß wie Krankheiten; aber der Gesunde bekämpft den Idealismus, wie er die Krankheit bekämpft. Der Idealist aber sieht die Ideale als etwas an, das gehegt und gepflegt werden muss.

Der Glaube, dass der Mensch vollkommen erst wird, wenn er «höheren» Zwecken dient, ist, nach Nietzsches Meinung, etwas, das überwunden werden muss. Der Mensch muss sich auf sich selbst besinnen und erkennen, dass er Ideale nur erschaffen hat, um sich zu dienen. Naturgemäß leben, ist gesünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht unpersönlichen Zielen dient, sondern der den Zweck und Sinn seines Daseins in sich selbst sucht, der solche Tugenden zu den seinigen macht, die seiner Kraftentfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen — diesen Menschen stellt Nietzsche höher als den selbstlosen Idealisten.

Dies ist es, was er durch seinen «Zarathustra» verkündet. Das souveräne Individuum, das weiß, dass es nur aus seiner Natur heraus leben kann, und das in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung sein persönliches Ziel sieht, ist für Nietzsche der Übermensch, im Gegensatz zu dem Menschen, der glaubt: ihm sei das Leben geschenkt, um einem außer ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen.

Den Übermenschen, das heißt den Menschen, der naturgemäß zu leben versteht, lehrt Zarathustra. Er lehrt die Menschen, ihre Tugenden als ihre Geschöpfe betrachten; er heißt sie diejenigen verachten, die ihre Tugenden höher als sich selbst achten.

Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um sich frei zu machen von der Demut, in der sich die Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht erst wieder unter Menschen, als er die Tugenden verachten gelernt hat, die das Leben bändigen und nicht dem Leben dienen wollen. Er bewegt sich nun leicht wie ein Tänzer, denn er folgt nur sich und seinem Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von den Tugenden vorgezeichnet werden. Nicht schwer mehr lastet der Glaube auf seinem Rücken, dass es unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra schläft nun nicht mehr, um von Idealen zu träumen; er ist ein Wachender, der der Wirklichkeit sich frei gegenüberstellt. Ein schmutziger Strom ist ihm der Mensch, der sich selbst verloren hat und vor seinen eigenen Geschöpfen im Staube liegt. Der Übermensch ist ihm ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne selbst unrein zu werden. Denn der Übermensch hat sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn und Schöpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Große erlebt, dass ihm alle Tugend zum Ekel geworden ist, die über den Menschen gesetzt wird.

«Was ist das Größte, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der großen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.»

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Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem Sinne der «modernen Gebildeten». Sie möchten alle Menschen einander gleich machen. Wenn alle nur nach einem Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufriedenheit und Glück auf Erden. Der Mensch soll zurückhalten, so fordern sie, seine besonderen persönlichen Wünsche und nur der Allgemeinheit, dem gemeinsamen Glücke dienen. Friede und Ruhe wird dann auf der Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfnisse hat, dann stört keiner die Kreise des andern. Nicht sich und seine individuellen Ziele soll der Einzelne im Auge haben, sondern nach der einmal bestimmten Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll alles einzelne Leben, und Glieder der gemeinsamen Weltordnung sollen alle werden.

«Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.

‹Ehemals war alle Welt irre› — sagen die Feinsten und blinzeln.

Man ist klug und weiß alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald; sonst verdirbt es den Magen.»

Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um solcher Weisheit zu huldigen. Er hat die eigenartigen Töne gehört, die aus dem Innern der Persönlichkeit erklingen, wenn der Mensch abseits steht von dem Lärm des Marktes, wo einer nur die Worte des andern nachspricht. Und er möchte es den Menschen in die Ohren rufen: höret auf die Stimmen, die nur in jedem Einzelnen von euch erklingen. Denn die nur sind naturgemäß, die nur sagen jedem, was er vermag. Ein Feind des Lebens, des reichen, vollen Lebens, ist derjenige, welcher diese Stimmen ungehört verhallen lässt und auf das gemeinsame Geschrei der Menschen hört. Zu den Freunden der Gleichheit aller Menschen will Zarathustra nicht sprechen. Sie könnten ihn nur missverstehen. Denn sie würden glauben, dass sein Übermensch jenes ideale Musterbild sei, dem alle gleich werden sollen. Aber Zarathustra will den Menschen keine Vorschriften darüber machen, wie sie sein sollen; er will nur jeden Einzelnen auf sich selbst verweisen und ihm sagen: überlasse dich dir selbst, folge nur dir allein, stelle dich über Tugend, Weisheit und Erkenntnis. Zu solchen, die sich suchen wollen, spricht Zarathustra; nicht einer Menge, die ein gemeinsames Ziel sucht, sondern solchen Gefährten gelten seine Worte, die gleich ihm einen eigenen Weg gehen. Sie allein verstehen ihn, denn sie wissen, dass er nicht sagen will: seht, dies ist der Übermensch, werdet wie er, sondern: seht, ich habe mich gesucht; so bin ich, wie ich es euch lehre; geht hin und sucht euch ebenso, dann habt ihr den Übermenschen.

«Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer machen mit meinem Glücke.»

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Zwei Tiere: die Schlange, als das klügste, und der Adler, als das stolzeste Tier, begleiten Zarathustra. Sie sind die Symbole seiner Instinkte. Klugheit schätzt Zarathustra, denn sie lehrt den Menschen, die verschlungenen Pfade der Wirklichkeit finden; sie lehrt ihn kennen, was er zum Leben braucht. Und auch den Stolz liebt Zarathustra, denn der Stolz bringt die Selbstachtung des Menschen hervor, durch die dieser dazu kommt, sich selbst als den Sinn und Zweck seines Daseins zu betrachten. Der Stolze stellt seine Weisheit, seine Tugend nicht über sich selbst. Der Stolz bewahrt den Menschen davor, sich selbst zu vergessen über «höheren, heiligeren» Zielen. Lieber noch als den Stolz möchte Zarathustra die Klugheit verlieren. Denn die Klugheit, die nicht von Stolz begleitet ist, sieht sich nicht als Menschenwerk an. Wem der Stolz und die Selbstachtung fehlt, der glaubt, seine Klugheit sei ihm vom Himmel geschenkt. Ein solcher sagt: ein Tor ist der Mensch, und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel schenken will.

«Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt: ach, sie liebt es, davonzufliegen! — möge mein Stolz dann noch mit meiner Torheit fliegen!»

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Drei Verwandlungen muss der menschliche Geist durchmachen, bis er sich selbst gefunden hat. Dies lehrt Zarathustra. Ehrfürchtig ist der Geist zuerst. Er nennt Tugend, was auf ihm lastet. Er erniedrigt sich, um seine Tugend zu erhöhen. Er sagt: alle Weisheit ist bei Gott, und Gottes Wegen muss ich folgen. Gott legt mir das Schwerste auf, um meine Kraft zu prüfen, ob sie auch stark sei und geduldig ausharre. Nur der Geduldige ist stark. Gehorchen will ich, sagt der Geist auf dieser Stufe, und ausführen die Gebote des Weltengeistes, ohne zu fragen, was der Sinn dieser Gebote ist. Der Geist fühlt den Druck, den eine höhere Macht auf ihn ausübt. Nicht seine Wege geht der Geist, sondern die Wege dessen, dem er dient. Es kommt die Zeit, wo der Geist inne wird, dass kein Gott zu ihm redet. Dann will er frei sein und Herr in seiner eigenen Welt. Er sucht nach einer Richtschnur für seine Geschicke. Er frägt nicht mehr den Weltengeist, wie er sein Leben einrichten solle. Aber nach einem festen Gesetz, nach einem heiligen «du sollst» strebt er. Er sucht nach einem Maßstab, um den Wert der Dinge zu messen; er sucht nach einem Unterscheidungszeichen von Gut und Böse. Es muss eine Regel für mein Leben geben, die nicht von mir, von meinem Willen abhängt, so spricht der Geist auf dieser Stufe. Dieser Regel will ich mich fügen. Frei bin ich, meint der Geist, aber nur frei, um einer solchen Regel zu gehorchen.

Auch diese Stufe überwindet der Geist. Er wird wie das Kind, das bei seinem Spielen nicht fragt: wie soll ich dies oder jenes machen, sondern das nur seinen Willen ausführt, das nur sich selbst folgt. «Seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene. Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele ward, und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. — Also sprach Zarathustra.»

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Was wollen die Weisen, die die Tugend über den Menschen stellen? fragt Zarathustra. Sie sagen: die Ruhe der Seele kann nur haben, wer seine Pflicht getan hat, wer dem heiligen «du sollst» gefolgt ist. Tugendhaft soll der Mensch sein, damit er nach getaner Pflicht träumen könne von erfüllten Idealen und keine Gewissensbisse fühle. Ein Mensch mit Gewissensbissen gleicht, sagen die Tugendhaften, einem Schlafenden, dem böse Träume die Nachtruhe stören. «Wenige wissen das: aber man muss alle Tugenden haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeugnis reden? Werde ich ehebrechen? Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten Magd? Das alles vertrüge sich schlecht mit gutem Schlafe Friede mit Gott und dem Nachbar: so will es der gute Schlaf Und Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um.»

Nicht was sein Trieb ihn heißt, tut der Tugendhafte, sondern was Seelenruhe bewirkt. Er lebt, um in Ruhe über das Leben träumen zu können. Noch lieber ist es ihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe nennt, gar kein Traum stört. Das heißt: dem Tugendhaften ist es am liebsten, wenn er irgendwoher die Regeln seines Handelns erhält und im übrigen seine Ruhe genießen kann. «Seine Weisheit heißt: wachen, um gut zu schlafen. Und wahrlich, hätte das Leben keinen Sinn, und müsste ich Unsinn wählen, so wäre auch mir dies der wählenswürdigste Unsinn», spricht Zarathustra.

Auch für Zarathustra gab es eine Zeit, da er glaubte, ein außerhalb der Welt wohnender Geist, ein Gott, habe die Welt geschaffen. Einen unzufriedenen, leidenden Gott dachte sich Zarathustra. Um sich eine Befriedigung zu verschaffen, um von seinem Leiden loszukommen, habe Gott die Welt erschaffen, meinte einst Zarathustra. Aber er hat einsehen gelernt, dass es ein Wahnbild war, das er sich selbst geschaffen hatte. «Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn gleich allen Göttern !» Zarathustra hat seine Sinne gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und zufrieden wurde er mit der Welt; nicht mehr schweiften seine Gedanken ins Jenseits. Blind war er ehemals und konnte die Welt nicht sehen, deshalb suchte er sein Heil außerhalb der Welt. Aber Zarathustra hat sehen gelernt und erkennen, dass die Welt in sich selbst ihren Sinn habe. «Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!»

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In Leib und Seele haben die Idealisten den Menschen gespalten, in Idee und Wirklichkeit haben sie alles Dasein geteilt. Und sie haben die Seele, den Geist, die Idee zu einem besonders Wertvollen gemacht, um die Wirklichkeit, den Leib umso mehr verachten zu können. Zarathustra aber sagt: Nur eine Wirklichkeit, nur einen Leib gibt es, und die Seele ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas an der Wirklichkeit. Eine Einheit sind Leib und Seele des Menschen; aus einer Wurzel entspringen Körper und Geist. Der Geist ist nur da, weil ein Körper da ist, der Kräfte hat, an sich den Geist zu entwickeln. Wie die Pflanze an sich die Blüte, so entfaltet der Körper an sich den Geist.

«Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.»

Wer einen Sinn hat für das Wirkliche, der sucht den Geist, die Seele in und an dem Wirklichen, er sucht die Vernunft in dem Wirklichen; nur wer die Wirklichkeit für geistlos, für «bloß natürlich», für «roh» hält, der gibt dem Geiste, der Seele ein besonderes Dasein. Er macht die Wirklichkeit zur bloßen Wohnung des Geistes. Einem solchen fehlt aber auch der Sinn für die Wahrnehmung des Geistes selbst. Nur weil er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht, sucht er ihn anderswo.

«Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit...

Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt.

Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‹Geist› nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.»

Ein Tor ist, wer die Blüte von der Pflanze reißt und glaubt, die abgerissene Blüte werde nun sich noch zur Frucht entwickeln. Ein Tor ist ebenso, wer den Geist von der Natur absondert und glaubt, ein solcher abgesonderter Geist könne noch schaffen.

Menschen mit kranken Instinkten haben die Scheidung von Geist und Körper vorgenommen. Ein kranker Instinkt nur kann sagen: mein Reich ist nicht von dieser Welt. Eines gesunden Instinktes Reich ist nur diese Wett.

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Was für Ideale haben sie doch geschaffen, diese Verächter der Wirklichkeit! Fassen wir sie ins Auge, die Ideale der Asketen, die da sagen: wendet ab euren Blick vom Diesseits und schaut nach dem Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit dieser Frage und den Vermutungen, mit denen er sie beantwortet, hat uns Nietzsche am tiefsten hineinblicken lassen in sein von der abendländischen neueren Kultur unbefriedigtes Herz. («Genealogie der Moral», 3. Abhandlung.)

Wenn ein Künstler, wie zum Beispiel Richard Wagner, in der letzten Zeit seines Schaffens, Anhänger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht viel zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes Leben hindurch über seinen Schöpfungen. Er sieht von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er schafft Wirklichkeiten, die nicht seine Wirklichkeit sind. «Ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill, und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre.» («Genealogie», 3. Abhandlung, § 4.) Wenn nun ein solcher Künstler sein eigenes Dasein einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persönlichen Ansichten in Wirklichkeit umsetzen will, so ist es kein Wunder, wenn etwas sehr Unreales entsteht. Richard Wagner hat über seine Kunst vollständig umgelernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt wurde. Vorher hielt er die Musik für ein Ausdrucksmittel, das etwas braucht, dem es Ausdruck verschafft, das Drama. In seiner Schrift «Oper und Drama», die 183 1 geschrieben ist, spricht er aus, dass der größte Irrtum, dem man sich in bezug auf die Oper hingeben kann, der ist, «dass ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mitte/gemacht war

Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem er Schopenhauers Lehre von der Musik kennen gelernt hatte. Schopenhauer ist der Ansicht, dass durch die Musik das Wesen der Dinge selbst zu uns spricht. Der ewige Wille, der in allen Dingen lebt, er wird in allen anderen Künsten nur in seinen Abbildern, in den Ideen, verkörpert; die Musik ist kein bloßes Bild des Willens: in ihr gibt sich der Wille unmittelbar kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur im Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins, der Wille, ihn glaubt Schopenhauer in den Klängen der Musik unmittelbar zu vernehmen. Kunde aus dem Jenseits bringt für Schopenhauer die Musik. Diese Ansicht wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr als Ausdrucksmittel wirklicher menschlicher Leidenschaften, wie sie im Drama verkörpert sind, ließ er die Musik gelten, sondern als «eine Art Mundstück des ‹Ansich› der Dinge, ein Telephon des Jenseits». Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr die Wirklichkeit in Tönen auszudrücken; «er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, — er redete Metaphysik: was Wunder, dass er endlich eines Tages asketische Ideale redete?...» («Genealogie», 3. Abhandlung, § 5.)

Hätte Richard Wagner bloß seine Ansicht über die Bedeutung der Musik geändert, so hätte Nietzsche keinen Anlas, ihm etwas vorzuwerfen. Nietzsche könnte dann höchstens sagen: Wagner hat außer seinen Kunstwerken auch noch allerlei verkehrte Theorien über die Kunst geschaffen. Dass aber Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens den Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinen Kunstwerken verkörpert hat, dass er seine Musik dazu verwendet hat, die Flucht vor der Wirklichkeit zu verherrlichen: das ging Nietzsche wider den Geschmack.

Aber der «Fall Wagner» besagt nichts, wenn es sich um die Bedeutung der Verherrlichung des Jenseits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich um die Bedeutung der asketischen Ideale handelt. Künstler stehen nicht auf eigenen Füßen. Wie Richard Wagner von Schopenhauer abhängig ist, so waren die Künstler «zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion».

Anders ist es, wenn die Philosophen für die Verachtung der Wirklichkeit, für die asketischen Ideale eintreten. Sie tun das aus einem tiefen Instinkte heraus.

Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch die Beschreibung, die er von dem Schaffen und Genießen eines Kunstwerkes gibt. «Dass also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische Genuss besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, dass die Kunst durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt, sondern ebenso sehr darauf, dass das zur rein Objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch erreicht wird, dass das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, weiche einer Beziehung zum Willen fähig sind.» («Ergänzungen zum 3. Buch der ‹Welt als Wille und Vorstellung›», Kap. 30.) «Wann aber äußerer Anlas oder innere Stimmung uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffasst, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist... der schmerzenlose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries, eingetreten: denn wir sind für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.» («Welt als Wille und Vorstellung», § 38.)

Dies ist eine Beschreibung einer Art des ästhetischen Genusses, die nur bei dem Philosophen vorkommt. Nietzsche stellt ihr gegenüber eine andere Beschreibung, «die ein wirklicher Zuschauer und Artist gemacht hat -Stendhal», der das Schöne «une promesse de bonheur» nennt. Schopenhauer möchte alles Willensinteresse, alles wirkliche Leben ausschalten, wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes handelt, und nur mit dem Geiste genießen; Stendhal sieht in dem Kunstwerke ein Versprechen von Glück, also einen Hinweis auf das Leben, und sieht in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben den Wert der Kunst.

Kant fordert vom schönen Kunstwerk, dass es ohne Interesse gefalle, das heißt dass es uns heraushebe aus dem wirklichen Leben und einen rein geistigen Genuss gewähre.

Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen Genuss? Erlösung von der Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit-fremde Stimmung will der Philosoph durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verrät dadurch seinen Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich in den Augenblicken am wohlsten, in denen er von der Wirklichkeit loskommen kann. Seine Ansicht vom ästhetischen Genuss zeigt, dass er die Wirklichkeit nicht liebt.

Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer von dem Kunstwerke verlangt, sagen uns die Philosophen in ihren Theorien, sondern nur, was ihnen selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist die Abkehr von dem Leben sehr förderlich. Er will sich seine verschlungenen Gedankenwege nicht durchkreuzen lassen von der Wirklichkeit. Das Denken gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von dem Leben abkehrt. Es ist nun kein Wunder, wenn dieser philosophische Grundinstinkt geradezu zu einer lebensfeindlichen Stimmung wird. Wir finden eine solche Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausgebildet. Und nahe liegt es, dass der Philosoph seine eigene Antipathie gegen das Leben zu einer Lehre ausbildet und fordert, dass sich alle Menschen zu einer solchen Lehre bekennen. Schopenhauer hat dieses getan. Er fand, dass der Lärm der Welt seine Gedankenarbeit störte. Er empfand, dass man über die Wirklichkeit am besten nachdenken kann, wenn man dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich vergaß er, dass alles Denken über die Wirklichkeit doch nur dann einen Wert hat, wenn es aus dieser Wirklichkeit entspringt. Er beachtete nicht, dass das Zurückziehen des Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen kann, damit die entfernt von dem Leben entstandenen philosophischen Gedanken dann dem Leben um so besser dienen können. Wenn der Philosoph den Grundinstinkt, der nur ihm als Philosophen förderlich ist, der ganzen Menschheit aufdrängen will, dann wird er zu einem Feinde des Lebens.

Der Philosoph, der die Weltflucht nicht als Mittel betrachtet, umweltfreundliche Gedanken zu schaffen, sondern als Zweck, als Ziel, kann nur Wertloses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf der einen Seite die Wirklichkeit nur, um sich auf der andern um so tiefer in sie einzubohren. Aber es ist begreiflich, dass dieser Grundinstinkt den Philosophen leicht dazu verführen kann, die Weltflucht als solche für wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu einem Anwalt der Weltverneinung. Er lehrt Abkehr vom Leben, asketisches Ideal. Er findet: «Ein gewisser Asketismus... eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vornherein nicht wundernehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist.» («Genealogie der Moral», 3. Abhandlung, § 9.)

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Einen andern Ursprung haben die asketischen Ideale der Priester. Was bei dem Philosophen durch das Überwuchern eines bei ihm berechtigten Triebes entsteht, das bildet das Grundideal des eine große Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewussten von den Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen droht. Die letzteren hassen die Gesunden und die leiblich und seelisch priesterlichen Wirkens. Der Priester sieht in der Hingabe des Menschen an das wirkliche Leben einen Irrtum; er verlangt, dass man dieses Leben gering achte gegenüber einem andern Leben, das von höheren als bloß natürlichen Kräften gelenkt wird. Der Priester leugnet, dass das wirkliche Leben einen Sinn in sich selbst habe, und er fordert, dass ihm dieser Sinn verliehen werde durch Einimpfung eines höheren Willens. Er sieht das Leben in der Zeitlichkeit als unvollkommen an und stellt ihm ein ewiges, vollkommenes Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit und Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester. Ich möchte als besonders bezeichnend für die priesterliche Denkweise einige Sätze aus dem berühmten Buche «Die deutsche Theologie» anführen, das aus dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther sagt, dass er aus keinem Buche, die Bibel und den heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt habe, was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem. Auch Schopenhauer findet, dass der Geist des Christentums in diesem Buche vollkommen und kräftig ausgesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der uns unbekannt ist, auseinandergesetzt hat, dass alle Dinge der Welt nur ein Unvollkommenes und Geteiltes seien gegenüber dem Vollkommenen, «das in sich und in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen hat, und ohne das und außer dem kein wahres Wesen ist und in dem alle Dinge ihr Wesen haben», führt er aus, dass der Mensch in dieses Wesen nur eindringen kann, wenn er «Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren» und in sich zunichte gemacht hat. Was von dem Vollkommenen ausgeflossen ist und was der Mensch als seine wirkliche Welt erkennt, das wird folgendermaßen charakterisiert: «Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen anders denn in dem Vollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz und ein Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausfließt, oder in der Sonne, oder in einem Lichte. -Die Schrift spricht und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei nichts anders, denn dass sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren Gute und kehret sich zu dem wandelbaren, das ist: dass sie sich kehrt von dem Vollkommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen und allermeist zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens und kürzlich alles dessen, das man gut nennen soll, und meint, dass sie das sei oder dass es das Ihre sei oder ihr zugehöre oder dass es von ihr sei: so oft und viel das geschieht, so kehrt sie sich ab. (1) Was tat der Teufel anders oder was war sein Fall und Abkehren anders, denn daß er sich annahm, er wäre auch etwas und etwas wäre sein und ihm gehörte auch etwas zu*? Dies Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist es noch... Denn alles das, was man für gut hält oder gut nennen soll, das gehört niemand zu, denn allein dem ewigen wahren Gut, der Gott allein ist, und wer sich dessen annimmt, der tut Unrecht und wider Gott.» (i., 2., 4. Kap. der «Deutsch. Theol.», 3. Aufl., übersetzt von Pfeiffer.)

Diese Sätze sprechen die Gesinnung jedes Priesters aus. Sie sprechen den eigentlichen Charakter der Priesterlichkeit aus. Und dieser Charakter ist das Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den höherwertigen, den lebenswürdigen bezeichnet. Der höherwertige Typus Mensch will alles, was er ist, nur durch sich sein; er will, daß alles, was er für gut hält und gut nennt, niemand zugehört, denn ihm selbst.

Aber jene minderwertige Gesinnung ist kein Ausnahmefall. «Sie ist eine der breitesten und längsten Tatsachen, die es gibt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluß verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht los würden.» («Genealogie der Moral», 3. Abhandlung, § 11.) Der asketische Priester ist deshalb eine Notwendigkeit, weil die Mehrzahl der Menschen an einer «Hemmung und Ermüdung» der Lebenskräfte leidet, weil sie an der Wirklichkeit leidet. Der asketische Priester ist der Tröster und Arzt derjenigen, die am Leben leiden. Er tröstet sie dadurch, dass er ihnen sagt: dieses Leben, an dem ihr leidet, ist nicht das wahre Leben; das wahre Leben ist denjenigen, die an diesem Leben leiden, viel leichter erreichbar als den Gesunden, die an diesem Leben hängen und sich ihm hingeben. Durch solche Aussprüche züchtet der Priester die Verachtung, die Verleumdung dieses wirklichen Lebens. Er bringt endlich die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre Leben zu erreichen, muss dieses wirkliche Leben verneint werden. In der Verbreitung dieser Gesinnung sucht der asketische Priester seine Stärke. Er beseitigt durch die Züchtung dieser Gesinnung Glücklichen, die ihre Kräfte aus der Natur nehmen. Diesen Hass, der sich dadurch äußern müsste, dass die Schwachen gegen die Starken einen fortwährenden Vernichtungskrieg führten, sucht der Priester niederzuhalten. Er stellt deshalb die Starken als diejenigen hin, die ein wertloses, menschenunwürdiges Leben führen und behauptet dagegen, dass das wahre Leben allein denen erreichbar ist, die von dem Erdenleben geschädigt werden. «Der asketische Priester muss uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück.» («Genealogie», 3. Abhandlung, § 15.) Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise endlich dazu führt, dass ihre Anhänger nicht nur das Leben verachten, sondern geradezu auf seine Zerstörung hinarbeiten. Wenn den Menschen gesagt wird, nur der Leidende, der Schwache kann wirklich zu einem höheren Leben kommen, so wird endlich das Leiden, die Schwäche gesucht werden. Sich selbst Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz ertöten, das wird Ziel Wollust für den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller Angehörigen, tiefe, gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung, zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch Entgegengehen den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten Felsengipfel im Himalaya, durch lebendig Begrabenwerden, auch durch Hinwerfung unter die Räder des unter Gesang, Jubel und Tanz der Bajaderen die Götterbilder umherfahrenden ungeheuren Wagens», dies sind die letzten Früchte der asketischen Gesinnung. (Schopenhauer, «Welt als Wille und Vorstellung», § 68.)

Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben entsprungen, und sie richtet ihre Waffen gegen das Leben. Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von ihr angesteckt wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen, dieser Lehre gegenüber etwas anderes geltend zu machen, eine Ansicht für Gesunde, Wohlgeratene. Mögen die Missratenen, Verdorbenen in der Lehre der asketischen Priester ihr Heil suchen; die Gesunden will Nietzsche um sich sammeln und ihnen eine Meinung sagen, die ihnen besser zu Gesichte steht, als jedes lebensfeindliche Ideal.

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Auch in den Pflegern der modernen Wissenschaft steckt noch das asketische Ideal. Zwar rühmt sich diese Wissenschaft, alle alten Glaubensvorstellungen über Bord geworfen zu haben und sich nur an die Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts gelten lassen, was sich nicht zählen, berechnen, wägen, sehen und greifen lässt. Dass man auf diese Weise «das Dasein zu einer Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei für Mathematiker» herabwürdigt, ist den modernen Gelehrten gleichgültig. («Fröhliche Wissenschaft», § 373.) Ein Recht, die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft vorüberziehenden Vorkommnisse der Welt zu interpretieren, so dass er sie mit seinem Denken beherrschen kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu. Er sagt: die Wahrheit muss von meiner Interpretationskunst unabhängig sein, und ich habe die Wahrheit nicht zu schaffen, sondern ich muss sie mir von den Erscheinungen der Welt diktieren lassen.

Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, wenn sie sich alles Zurechtlegens der Welterscheinungen enthält, das hat ein Anhänger dieser Wissenschaft (Richard Wahle) in einem soeben erschienenen Buche («Das Ganze der Philosophie und ihr Ende») ausgesprochen: «Was könnte der Geist, der, ins Weltgehäuse spähend und in sich die Fragen nach dem Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte, endlich als Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, dass er, wie er so scheinbar im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen zusammenfloss. Er ‹wusste› nicht mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, dass Wissende da sind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie kommen freilich in solcher Weise, dass der Begriff eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt, entstehen konnte. Und ‹Begriffe› huschten empor, um Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren Irrlichter, Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärmliche, in ihrer Evidenz nichtssagende Postulate einer unausgefüllten Wissensform. Unbekannte Faktoren müssen im Wechsel walten. Über ihre Natur war Dunkel gebreitet. Vorkommnisse sind der Schleier des Wahrhaften.»

Dass die menschliche Persönlichkeit in die Vorkommnisse der Wirklichkeit einen Sinn hineinlegen könne und die unbekannten Faktoren, die im Wechsel der Ereignisse walten, aus eigenem Vermögen ergänzen könne, daran denken die modernen Gelehrten nicht. Sie wollen nicht die Flucht der Erscheinungen durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer Persönlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen bloß beobachten und beschreiben, aber nicht deuten. Sie wollen bei dem Tatsächlichen stehen bleiben und es der schöpferischen Phantasie nicht gestatten, sich ein in sich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zu machen.

Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie zum Beispiel Ernst Haeckel, aus den Ergebnissen einzelner Beobachtungen ein Gesamtbild der Entwicklung des organischen Lebens auf der Erde entwirft, dann fallen diese Fanatiker der Tatsächlichkeit über ihn her und zeihen ihn der Versündigung an der Wahrheit. Die Bilder, die er von dem Leben in der Natur entwirft, können sie nicht mit Augen sehen, oder mit Händen greifen. Ihnen ist das unpersönliche Urteil lieber, als das durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte. Sie möchten bei ihren Beobachtungen am liebsten die Persönlichkeit ganz ausschalten.

Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der Tatsächlichkeit beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit jenseits des persönlichen, individuellen Urteiles. Was der Mensch in die Dinge «hineinphantasieren» kann, bekümmert sie nicht; die «Wahrheit» ist ihnen etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch soll sie entdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht schaffen. Die Naturforscher und die Geschichtsschreiber sind gegenwärtig von dem gleichen Geiste des asketischen Ideals beseelt. Überall Aufzählen, Beschreiben von Tatsachen, und nichts darüber. Jedes Zurechtlegen der Tatsachen ist verpönt. Alles persönliche Urteilen soll unterbleiben.

Unter diesen modernen Gelehrten finden sich auch Atheisten. Diese Atheisten sind aber keine freieren Geister als ihre Zeitgenossen, die an Gott glauben. Mit den Mitteln der modernen Wissenschaft lässt sich das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat sich doch eine der Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois-Reymond) über die Annahme einer «Weltseele» also geäußert: bevor der Naturforscher sich zu einer solchen Annahme entschließt, verlangt er, «dass ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellen Blut unter richtigem Drucke gespeist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglien-Kugeln und Nervenfasern gezeigt» werde («Grenzen des Naturerkennens»). Die moderne Wissenschaft lehnt den Glauben an Gott ab, weil dieser Glaube neben dem Glauben an die «objektive Wahrheit» nicht bestehen kann. Diese «objektive Wahrheit» ist aber nichts anderes als ein neuer Gott, der über den alten gesiegt hat. «Der unbedingte redliche Atheismus (- und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäss nicht im Gegensatz zu jenem [asketischen] Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeiten, — er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet.» («Genealogie», 3. Abhandlung, § 27.) Der Christ sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott für den Quell aller Wahrheit hält; der moderne Atheist lehnt den Glauben an Gott ab, weil ihm sein Gott, sein Ideal von Wahrheit diesen Glauben verbietet. Der moderne Geist sieht in Gott eine menschliche Schöpfung; in der «Wahrheit» sieht er etwas, was ohne alles menschliche Zutun durch sich selbst besteht. Der wirklich «freie Geist» geht noch weiter. Er fragt: «Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?» Wozu Wahrheit? Alle Wahrheit entsteht doch dadurch, dass der Mensch über die Erscheinungen der Welt nachdenkt, sich Gedanken über die Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer der Wahrheit. Der «freie Geist» kommt zum Bewusstsein seines Schaffens der Wahrheit. Er betrachtet die Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unterordnet; er betrachtet sie als sein Geschöpf.

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Die mit schwachen, missratenen Erkenntnisinstinkten ausgestatteten Menschen wagen es nicht, aus der Begriffe bildenden Macht ihrer Persönlichkeit heraus den Welterscheinungen einen Sinn unterzulegen. Sie wollen, dass ihnen die «Gesetzmäßigkeit der Natur» als Tatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives, der Einrichtung des menschlichen Geistes gemäß geformtes Weltbild scheint ihnen wertlos. Aber die bloße Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt liefert uns nur ein zusammenhangloses und doch nicht in Einzelheiten gesondertes Weltbild. Dem bloßen Beobachter der Dinge erscheint kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als das andere. Das rudimentäre Organ eines Organismus, das vielleicht dann, wenn wir darüber nachgedacht haben, ohne alle Bedeutung für die Entwicklung des Lebens erscheint, steht gerade mit demselben Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des Organismus, so lange wir bloß den objektiven Tatbestand beschauen. Ursache und Wirkung sind aufeinanderfolgende Erscheinungen, die ineinander überfließen, ohne durch etwas getrennt zu sein, so lange wir sie bloß beobachten. Erst wenn wir mit unserem Denken einsetzen, die ineinander fließenden Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander beziehen, wird ein gesetzmäßiger Zusammenhang sichtbar. Erst das Denken erklärt die eine Erscheinung für die Ursache, die andere für die Wirkung. Wir sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen und eine Vertiefung hervorrufen. Ein Wesen, das nicht denken kann, wird hier nicht Ursache und Wirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert die Erscheinungen, bringt die isolierten Fakten in ein Verhältnis und bezeichnet das eine Faktum als Ursache, das andere als Wirkung. Durch die Beobachtung wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu produzieren und diese mit den beobachteten Tatsachen zu einem gedankenvollen Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch tut dies, weil er die Summe der Beobachtungen gedanklich beherrschen will. Ein ihm gegenüberstehendes Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine unbekannte Macht. Er widersetzt sich dieser Macht, überwindet sie, indem er sie denkbar macht. Auch alles Zählen, Wägen und Berechnen der Erscheinungen geschieht aus demselben Grunde. Es ist der Wille zur Macht, der sich in dem Erkenntnistriebe auslebt. (Ich habe den Erkenntnisprozess im einzelnen dargestellt in meinen beiden Schriften: «Wahrheit und Wissenschaft» und «Die Philosophie der Freiheit».)

Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht eingestehen, dass er es selbst ist, der als Äußerung seines Strebens nach Macht die Erscheinungen interpretiert. Er hält auch seine Interpretation für einen Tatbestand. Und er fragt: wie der Mensch dazu kommt, einen solchen Tatbestand in der Wirklichkeit zu finden. Er fragt zum Beispiel: wie kommt es, dass der Intellekt in zwei aufeinander folgenden Erscheinungen Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnistheoretiker von Locke, Hume, Kant bis auf die Gegenwart haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Die Spitzfindigkeiten, die sie auf diese Untersuchung verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Erklärung ist gegeben in dem Streben des menschlichen Intellekts nach Macht, Die Frage ist gar nicht: sind Urteile, Gedanken über die Erscheinungen möglich, sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile nötig? Weil er sie nötig hat, deshalb wendet er sie an, und nicht weil sie möglich sind. Es kommt darauf an, «zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urteile sein könnten!» («Jenseits von Gut und Böse», § II.) «Und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urteile... uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, — dass Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre.» (Ebenda, § 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint, der besinne sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung der Geometrie auf die Wirklichkeit ist, obgleich es nirgends in der Welt wirklich geometrisch regelmäßige Linien, Flächen und so weiter gibt.

Wenn der stumpfe, schwache Intellekt einsieht, dass alle Urteile über die Dinge aus ihm selbst stammen, durch ihn produziert und mit den Beobachtungen verschmolzen werden, dann hat er nicht den Mut, diese Urteile rückhaltlos anzuwenden. Er sagt: Urteile solcher Art können uns keine Erkenntnis von dem «wahren Wesen» der Dinge vermitteln. Dieses «wahre Wesen» bleibt daher unserer Erkenntnis verschlossen.

Noch in einer anderen Art sucht der schwache Intellekt zu beweisen, dass durch das menschliche Erkennen kein Feststehendes gewonnen werden kann. Er sagt: Der Mensch sieht, hört, tastet die Dinge und Vorgänge. Was er dabei wahrnimmt, sind Eindrücke auf seine Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe, einen Ton wahrnimmt, so kann er nur sagen: mein Auge, mein Ohr werden in einer gewissen Art bestimmt, Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas außer ihm nimmt der Mensch wahr, sondern nur eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen Organe. In der Wahrnehmung werden das Auge, das Ohr und so weiter dazu veranlasst, in einer gewissen Weise zu empfinden; sie werden in einen bestimmten Zustand versetzt. Diese Zustände seiner eigenen Organe nimmt der Mensch als Farben, Töne, Gerüche und so weiter wahr. In aller Wahrnehmung nimmt der Mensch nur seine eigenen Zustände wahr. Was er Außenwelt nennt, ist nur aus diesen seinen Zuständen zusammengesetzt; ist also im eigentlichen Sinne sein Werk. Die Dinge, die ihn veranlassen, aus sich heraus die Außenwelt zu spinnen, kennt er nicht; nur ihre Wirkungen auf seine Organe. Einem von dem Menschen geträumten Traume gleich, der durch ein Unbekanntes veranlasst wird, erscheint die Welt in dieser Beleuchtung.

Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird, so zieht er folgenden Nachsatz nach sich. Auch seine Organe kennt der Mensch nur, insofern er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in seiner Wahrnehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich der Mensch nur bewusst, insofern er die Bilder der Welt aus sich herausspinnt. Traumbilder nimmt er wahr und inmitten dieser Traumbilder ein «Ich», an dem diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes Traumbild erscheint in Begleitung dieses «Ich». Man kann auch sagen: jedes Traumbild erscheint inmitten der Traumwelt immer in Beziehung auf dieses «Ich». Dieses «Ich» haftet als Bestimmung, als Eigenschaft an den Traumbildern. Es ist somit, als Bestimmung von Traumbildern, selbst ein Traumhaftes. J. G. Fichte fasst diese Ansicht in die Worte zusammen: «Was durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist notwendig, ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck.» «Alle Realität» ist für Fichte ein wunderbarer «Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt»; ein Traum, «der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt». («Bestimmung des Menschen», 2. Buch.)

Was hat diese ganze Gedankenkette für eine Bedeutung? Ein schwacher Intellekt, der sich nicht unterfangen will, der Welt aus sich heraus einen Sinn zu geben, sucht diesen Sinn in der Welt der Beobachtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden, weil die bloße Beobachtung gedankenleer ist.

Der starke, produktive Intellekt verwendet seine Begriffswelt dazu, die Beobachtungen zu deuten; der schwache, unproduktive Intellekt erklärt sich selbst für zu ohnmächtig, um das zu tun und sagt: ich kann in den Erscheinungen der ~ keinen Sinn finden; sie sind bloße Bilder, die an mir vorüberziehen. Der Sinn des Daseins muss außerhalb, jenseits der Erscheinungswelt gesucht werden. Dadurch wird die Erscheinungswelt, das heißt die menschliche Wirklichkeit für einen Traum, eine Täuschung, ein Nichts erklärt und das «wahre Wesen» der Erscheinungen wird in einem «Ding an sich» gesucht, bis zu dem keine Beobachtung, kein Erkennen reicht, das heißt von dem sich der Erkennende keine Vorstellung machen kann. Dieses «wahre Wesen» ist also für den Erkennenden ein völlig leerer Gedanke, der Gedanke an ein Nichts. Traum ist bei jenen Philosophen, die von dem «Ding an sich» sprechen, die Erscheinungswelt. Nichts ist aber das, was sie als das «wahre Wesen» dieser Erscheinungswelt ansehen. Die ganze philosophische Bewegung, die von dem «Ding an sich» spricht und die in der neueren Zeit sich namentlich auf Kant stützt, ist der Glaube an das Nichts, ist philosophischer Nihilismus.

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Wenn der starke Geist nach der Ursache eines menschlichen Handelns und Vollbringens sucht, so findet er diese immer in dem Willen zur Macht der einzelnen Persönlichkeit. Der Mensch mit schwachem, mutlosem Intellekt will dies aber nicht zugeben. Er fühlt sich nicht kräftig genug, sich zum Herrn und Richtunggeber seines Handelns zu machen. Er deutet die Triebe, die ihn lenken, als Gebote einer fremden Macht. Er sagt nicht: ich handle, wie ich will; sondern er sagt: ich handle gemäß einem Gebote, wie ich soll. Er will sich nicht befehlen, er will gehorchen. Auf der einen Stufe der Entwicklung sehen die Menschen ihre Antriebe zum Handeln als Gebote Gottes an, auf einer andern Stufe glauben sie in ihrem Innern eine Stimme zu vernehmen, die ihnen gebietet. Sie wagen es im letzteren Falle nicht, zu sagen: ich bin es selbst, der da befiehlt; sie behaupten: in mir spricht ein höherer Wille sich aus. Dass sein Gewissen ihm in jedem einzelnen Falle sagt, wie er handeln soll, ist die Meinung des einen; dass ein kategorischer Imperativ ihm befiehlt, behauptet ein anderer. Hören wir, was J. G. Fichte sagt: «Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal geschehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben von mir ... fordert; dass es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Verstand: um es zu vollbringen, Kraft.» («Bestimmung des Menschen», 3. Buch.) Ich führe mit Vorliebe J. G. Fichtes Aussprüche an, weil er mit eiserner Konsequenz die Meinung der «Schwachen und Missratenen» bis ans Ende gedacht hat. Wozu diese Meinungen zuletzt führen, kann man nur erkennen, wenn man sie da aufsucht, wo sie zu Ende gedacht worden sind; auf die Halben, die jeden Gedanken nur bis in seine Mitte denken, kann man sich nicht stützen.

Nicht in der Einzelpersönlichkeit wird von denen, die in der angedeuteten Weise denken, der Quell des Wissens gesucht; sondern jenseits dieser Persönlichkeit in eine «Willen an sich». Eben dieser «Wille an sich» soll als «Stimme Gottes» oder «als Stimme des Gewissens», «kategorischer Imperativ» und so weiter zu dem Einzelnen sprechen. Er soll der universelle Lenker des menschlichen Handelns und der Urquell der Sittlichkeit sein und auch die Zwecke des sittlichen Handelns bestimmen. «Ich sage, das Gebot des Handelns selbst ist es, welches durch sich selbst mir einen Zweck setzt: dasselbe in mir, was mich nötigt, zu denken, dass ich so handeln solle, nötigt mich, zu glauben, dass aus diesem Handeln etwas erfolgen werde; es eröffnet dem Auge die Aussicht auf eine andere Welt.» «Wie ich im Gehorsam lebe, lebe ich zugleich in der Anschauung seines Zweckes, lebe ich in der bessern Welt, die er mir verheißt.» (Fichte, «Die Bestimmung des Menschen», 3. Buch.) Der also Denkende will sich nicht selbst sein Ziel setzen; er will von dem höheren Willen, dem er gehorcht, sich zu einem Ziele führen lassen. Er will sich seines Eigenwillens entledigen und sich zum Werkzeug «höherer» Zwecke machen. In Worten, die zu den schönsten Erzeugnissen des Sinnes für Gehorsam und Demut gehören, die mir bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe an den «ewigen Willen an sich». «Erhabener, lebendiger Wille, den kein Name nennt und kein Begriff umfasst, wohl darf ich mein Gemüt zu dir erheben; denn du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ertönt in mir, die meinige tönt in dir wieder; und alle meine Gedanken, wenn sie nur wahr und gut sind, sind in dir gedacht. — In dir, dem Unbegreiflichen, werde ich mir selbst, und wird mir die Welt vollkommen begreiflich, alle Rätsel meines Daseins werden gelöst, und die vollendetste Harmonie entsteht in meinem Geiste.» «Ich verhülle vor dir mein Angesicht und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist und dir selbst erscheinst, kann ich nie einsehen, so gewiss ich nie du selbst werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterleben werde ich dich noch ebenso wenig begreifen als jetzt, in dieser Hütte von Erde.» («Bestimmung des Menschen», 3. Buch.)

Wohin dieser Wille den Menschen zuletzt führen will, das kann der Einzelne nicht wissen. Wer an diesen Willen glaubt, gesteht also damit, dass er über die Endzwecke seines Handelns nichts weiß. Die Ziele, die sich der Einzelne schafft, sind aber für einen solchen Gläubigen eines höheren Willens keine «wahren» Ziele. Er setzt somit an die Stelle der durch das Individuum geschaffenen positiven Einzelziele einen Endzweck der ganzen Menschheit, dessen Gedankeninhalt aber ein Nichts ist. Ein solcher Gläubiger ist moralischer Nihilist. Er ist in der schlimmsten Art von Unwissenheit befangen, die sich erdenken lässt. Nietzsche wollte diese Art von Unwissenheit in einem besonderen Buche seines unvollendet gebliebenen Werkes «Der Wille zur Macht» behandeln. (Vgl. Anhang zu Band VIII der Gesamtausgabe von Nietzsches Werken.)

Die Lobpreisung des moralischen Nihilismus finden wir wieder in Fichtes «Bestimmung des Menschen» (3. Buch):

«Ich will nicht versuchen, was mir durch das Wesen der Endlichkeit versagt ist, und was mir zu nichts nützen würde; wie du an dir selbst bist, will ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und Verhältnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allem Endlichen, liegen offen vor meinem Auge: werde ich, was ich sein soll! — und sie umgeben mich in hellerer Klarheit, als das Bewusstsein meines eignen Daseins. Du wirkest in mir die Erkenntnis von meiner Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe der vernünftigen Wesen; wie, das weiß ich nicht, noch bedarf ich es zu wissen. Du weißt und erkennst, was ich denke und will; wie du wissen kannst, — durch welchen Akt du dieses Bewusstsein zustande bringst, darüber verstehe ich nichts; ja ich weiß sogar sehr wohl, dass der Begriff eines Akts, und eines besonderen Akts des Bewusstseins nur von mir gilt, nicht aber von dir, dem Unendlichen. Du willst, denn du willst, dass mein freier Gehorsam Folgen habe in alle Ewigkeit; den Akt deines Willens begreift ich nicht, und weiß nur so viel, dass er nicht ähnlich ist dem meinigen. Du tust, und dein Wille selbst ist Tat; aber deine Wirkungsweise ist der, die ich allein zu denken vermag, geradezu entgegengesetzt. Du lebest und bist, denn du weißt, willst und wirkest, allgegenwärtig der endlichen Vernunft; aber du bist nicht, wie ich alle Ewigkeiten hindurch allein ein Sein werde denken können

Dem moralischen Nihilismus stellt Nietzsche die Ziele gegenüber, die der schaffende Einzelwille sich setzt. Den Lehrern der Ergebung ruft Zarathustra zu:

«Diese Lehrer der Ergebung! Überall hin, wo es klein und krank und grindig ist, kriechen sie, gleich Läusen; und nur mein Ekel hindert mich, sie zu knacken. Wohlan! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren: ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht: ‹wer ist gottloser denn ich, dass ich mich seiner Unterweisung freue?› Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich meinesgleichen? Und alle die sind meinesgleichen, die sich selber ihren Willen geben und alle Ergebung von sich abtun

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Die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft, ist rücksichtslos in der Ausführung derselben. Die schwache Persönlichkeit dagegen führt nur das aus, wozu der Wille Gottes oder die «Stimme des Gewissens» oder der «kategorische Imperativ» Ja sagt. Was diesem Ja entspricht, bezeichnet der Schwache als gut, was diesem Ja zuwider ist als böse. Der Starke kann dieses «gut und bös» nicht anerkennen; denn er erkennt diejenige Macht nicht an, von der sich der Schwache sein Gutes und Böses bestimmen lässt. Was er, der Starke, will, ist für ihn gut; er führt es durch gegen alle widerstrebenden Mächte. Was ihn in dieser Durchführung stört, das sucht er zu überwinden. Er glaubt nicht, dass ein «ewiger Weltwille» alle einzelnen Willensentschlüsse zu einer großen Harmonie lenkt; aber er ist der Ansicht, dass alle menschliche Entwicklung aus den Willensimpulsen der Einzelpersönlichkeiten sich ergibt, und dass ein ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen Willensäußerungen, in dem immer der stärkere Wille über den schwächeren siegt. Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke Persönlichkeit, die sich selbst Gesetz und Zweck geben will, als böse, als sündhaft bezeichnet. Sie erregt Furcht, denn sie durchbricht die hergebrachten Ordnungen; sie nennt wertlos, was die Schwachen gewohnt sind, wertvoll zu nennen, und sie erfindet Neues, vor ihr Unbekanntes, das sie als wertvoll bezeichnet. «Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die selteneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, dass sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja dass sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müsste.» («Morgenröte», § 9.)

Der wahrhaft freie Geist fasst schlechthin erste Entschlüsse; der unfreie entscheidet sich nach dem Herkommen. «Sittlichkeit ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen.» («Morgenröte», § 9.) Dieses Herkommen ist es, was von den Moralisten als «ewiger Wille», «kategorischer Imperativ» gedeutet wird. Jedes Herkommen ist aber das Ergebnis der naturgemäßen Triebe und Impulse einzelner Menschen, ganzer Stämme, Völker und so weiter. Es ist ebenso das Produkt natürlicher Ursachen, wie etwa die Witterungsverhältnisse einzelner Gegenden. Der freie Geist erklärt sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er hat seine individuellen Triebe und Impulse, und diese sind nicht weniger berechtigt als die der anderen. Er setzt diese Impulse in Handlungen um, wie eine Wolke Regen auf die Erdoberfläche sendet, wenn die Ursachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht jenseits dessen, was das Herkommen als gut und böse ansieht. Er schafft sich selbst sein Gut und Böse.

«Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und böse sei. Eine alte müde Sache dünkte ihn alles Reden von Tugend; und wer gut schlafen wollte, der sprach vor dem Schlafengehen noch von ‹Gut› und ‹Böse›. Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist, das weiß noch niemand — es sei denn der Schaffende! — Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn gibt und ihre Zukunft: dieser erst schafft es, dass etwas gut und böse ist.» («Zarathustra», 3. Teil, «Von alten und neuen Tafeln.»)

Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem Herkommen gemäß ist, dann tut er es, weil er die herkömmlichen Motive zu den seinigen machen will, und weil er es in bestimmten Fällen nicht für nötig hält. an die Stelle des Herkömmlichen etwas Neues zu setzen.

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Der Starke sucht in der Durchsetzung seines schaffenden Selbst seine Lebensaufgabe. Diese Selbstsucht unterscheidet ihn von den Schwachen, die in der selbstlosen Hingabe an das, was sie das Gute nennen, die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen predigen die Selbstlosigkeit als die höchste Tugend. Ihre Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge ihres Mangels an Schaffenskraft. Hätten sie ein schaffendes Selbst, so würden sie dieses auch durchsetzen wollen. Der Starke liebt den Krieg, denn er braucht den Krieg, um seine Schöpfungen gegen die widerstrebenden Mächte durchzusetzen.

«Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber noch Triumph rufen! Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen. Euch rate ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg! Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt. Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.» («Zarathustra», 1. Teil. «Vom Krieg und Kriegsvolke.»)

Unerbittlich und ohne Schonung des Widerstrebenden handelt der Schaffende. Er kennt nicht die Tugend der Leidenden: das Mitleid. Aus seiner Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht aus dem Gefühle des fremden Leidens. Dass die Kraft siege, dafür setzt er sich ein, nicht dass das Leidende, Schwache gepflegt werde. Schopenhauer hat die ganze Welt für ein Lazarett erklärt, und die aus dem Mitgefühle mit den Leidenden entspringenden Handlungen für die höchsten Tugenden. Er hat damit die Moral des Christentums in anderer Form ausgesprochen, als dieses selbst es tut. Der Schaffende fühlt sich nicht berufen, Krankenwärterdienste zu verrichten. Die Tüchtigen, Gesunden können nicht um der Schwachen, Kranken willen da sein. Das Mitleid schwächt die Kraft, den Mut, die Tapferkeit.

Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was der Starke überwinden will: die Schwäche, das Leiden. Der Sieg des Starken über das Schwache ist der Sinn aller menschlichen wie aller natürlichen Entwicklung. «Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung.» («Jenseits von Gut und Böse», § 259.)

«Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir — siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir — schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs — Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz — härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. Diese neue Tafel, 0 meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart!» («Zarathustra», 3. Teil. «Von alten und neuen Tafeln.»)

Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mitleid. Wer ihn bemitleiden wollte, den müsste er fragen: hältst du mich für so schwach, dass ich mein Leid nicht selbst tragen kann? Ihm geht jedes Mitleid gegen die Scham. Nietzsche bringt den Widerwillen des Starken gegen das Mitleiden im vierten Teil seines «Zarathustra» zur Anschauung. Zarathustra kommt auf seinen Wanderungen in ein Tal, das «Schlangentod» heißt. Kein Lebewesen findet sich hier. Nur eine Art hässlicher grüner Schlangen kommt hierher, um zu sterben. Dieses Tal hat der «hässlichste Mensch» aufgesucht. Dieser will von keinem Wesen gesehen werden wegen seiner Hässlichkeit. In diesem Tal sieht ihn niemand außer Gott. Aber auch dessen Anblick kann er nicht ertragen. Das Bewusstsein, dass Gottes Blicke in alle Räume dringen, ist ihm zur Last. Er hat deshalb Gott getötet, das heißt er hat den Glauben an Gott in sich ertötet. Er ist zum Atheisten geworden wegen seiner Hässlichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen sieht, überfällt ihn noch einmal das, was er für immer in sich getilgt zu haben glaubt: das Mitleid mit der furchtbaren Hässlichkeit. Dies ist eine Versuchung Zarathustras. Er weist aber das Gefühl des Mitleids bald zurück und wird wieder hart. Der hässlichste Mensch sagt zu ihm: Deine Härte ehrt meine Hässlichkeit. Ich bin zu reich an Hässlichkeit, um irgend eines Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht gegen die Scham.

Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, und der freie Geist will vollständig auf sich selbst gestellt sein.

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Mit der Aufzeigung des natürlichen Willens zur Macht als Ursache der menschlichen Handlungen geben sich die Schwachen nicht zufrieden. Sie suchen nicht bloß nach natürlichen Zusammenhängen in der Menschenentwicklung, sondern sie suchen das Verhältnis der menschlichen Handlungen zu dem, was sie als den «Willen an sich», die «ewige, sittliche Weltordnung» nennen. Wer dieser Weltordnung zuwiderhandelt, dem sprechen sie eine Schuld zu. Und sie begnügen sich auch nicht damit, eine Handlung nach ihren natürlichen Folgen zu bewerten, sondern sie machen den Anspruch darauf, dass eine schuldvolle Handlung auch moralische Folgen, Strafen nach sich ziehe. Sie nennen sich selbst schuldig, wenn sie ihr Handeln mit der sittlichen Weltordnung nicht in Übereinstimmung finden; sie wenden sich mit Abscheu von dem Quell des Bösen in sich ab und nennen dies Gefühl böses Gewissen. Alle diese Begriffe lässt die starke Persönlichkeit nicht gelten. Sie kümmert sich nur um die natürlichen Folgen ihrer Handlungen. Sie fragt: wie viel ist meine Handlungsweise für das Leben wert? Entspricht sie dem, was ich gewollt habe? Der Starke kann sich grämen, wenn ihm eine Handlung fehlschlägt, wenn das Resultat seinen Absichten nicht entspricht. Aber er klagt sich nicht an. Denn er misst seine Handlungsweise nicht an außernatürlichen Maßstäben. Er weiß, dass er so handelt, wie es seinen natürlichen Trieben entspricht, und kann höchstens bedauern, dass diese nicht besser sind. Ebenso hält er es mit der Beurteilung fremder Handlungen. Ein moralisches Abschätzen der Handlungen kennt er nicht. Er ist Immoralist. Was das Herkommen als böse bezeichnet, sieht der Immoralist ebenso als Ausfluss menschlicher Instinkte an, wie das Gute. Die Strafe gilt ihm nicht als moralisch bedingt, sondern nur als ein Mittel, Instinkte gewisser Menschen, die andern schädlich sind, auszurotten. Die Gesellschaft straft nach Ansicht des Immoralisten nicht deswegen, weil sie ein «moralisches Recht» hat, die Schuld zu sühnen, sondern allein, weil sie sich stärker erweist, als der Einzelne, welcher der Gesamtheit widerstrebende Instinkte hat. Die Macht der Gesellschaft steht gegen die Macht des Einzelnen. Dies ist der natürliche Zusammenhang einer «bösen» Handlung des Einzelnen mit der Rechtsprechung der Gesellschaft und der Bestrafung dieses Einzelnen. Es ist der Wille zur Macht, das heißt zum Ausleben jener Instinkte, die bei der Mehrzahl der Menschen vorhanden sind, der sich in der Rechtspflege einer Gesellschaft äußert. Der Sieg einer Mehrheit über einen Einzelnen ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne über die Gesellschaft, so müsste seine Handlungsweise als gut, die der andern als böse bezeichnet werden. Das jeweilige Recht drückt nur aus, was die Gesellschaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur Macht anerkennt.

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Weil Nietzsche in der menschlichen Handlungsweise nur einen Ausfluss der Instinkte sieht, und diese letzteren bei verschiedenen Menschen verschieden sind, scheint es ihm notwendig, dass auch deren Handlungsweisen verschieden sind. Nietzsche ist deshalb ein entschiedener Gegner des demokratischen Grundsatzes: Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle. Die Menschen sind ungleich, deshalb müssen auch ihre Rechte und Pflichten ungleich sein. Der natürliche Gang der Weltgeschichte wird stets starke und schwache, schaffende und unfruchtbare Menschen aufweisen. Und die Starken werden immer dazu berufen sein, den Schwachen die Ziele zu bestimmen. Ja noch mehr: die Starken werden sich der Schwachen als Mittel zum Zwecke, das heißt als Sklaven bedienen. Nietzsche spricht natürlich nicht von einem «moralischen» Recht der Starken zur Haltung von Sklaven. «Moralische» Rechte erkennt er nicht an. Sondern er ist der Meinung, dass die Überwindung des Schwächeren durch den Stärkeren, die er für das Prinzip alles Lebens hält, notwendig zur Sklaverei führen muss.

Es ist auch natürlich, dass sich der Überwundene gegen den Überwinder auflehnt. Wenn diese Auflehnung sich nicht durch die Tat äußern kann, so äußert sie sich wenigstens im Gefühle. Und der Ausdruck dieses Gefühles ist die Rache, die stets in den Herzen derer wohnt, die in irgend einer Weise von den besser Veranlagten überwunden worden sind. Als Ausfluss dieser Rache sieht Nietzsche die moderne sozialdemokratische Bewegung an. Der Sieg dieser Bewegung würde ihm eine Erhöhung der Missratenen, Übel-Weggekommenen zu Ungunsten der Besseren sein. Gerade das Gegenteil strebt Nietzsche an: die Pflege der starken, selbstherrlichen Persönlichkeit. Und er hasst die Sucht, die alles gleich machen und die souveräne Individualität in dem Meere der allgemeinen Mittelmäßigkeit verschwinden lassen will.

Nicht alle sollen dasselbe haben und genießen, meint Nietzsche, sondern jeder soll haben und genießen, was er nach Maßgabe seiner persönlichen Stärke erreichen kann.

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Was der Mensch wert ist, hängt allein von dem Wert seiner Instinkte ab. Durch nichts anderes kann der Wert des Menschen bestimmt werden. Man spricht von dem Werte der Arbeit. Die Arbeit soll den Menschen adeln. Aber die Arbeit hat an sich gar keinen Wert. Nur dadurch, dass sie dem Menschen dient, erhält sie einen Wert. Nur insofern sich die Arbeit als natürliche Folge der menschlichen Neigungen darstellt, ist sie des Menschen würdig. Wer sich zum Diener der Arbeit macht, entwürdigt sich. Nur der Mensch, der nicht sich selbst seinen Wert bestimmen kann, sucht diesen Wert an der Größe seines Werkes abzumessen. Es ist charakteristisch für das demokratische Bürgertum der neueren Zeit, dass es in der Wertbemessung des Menschen sich nach dessen Arbeit richtet. Sogar Goethe ist von dieser Gesinnung nicht frei. Lässt er doch seinen Faust die volle Befriedigung in dem Bewusstsein getaner Arbeit finden.

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Auch die Kunst hat nach Nietzsches Meinung nur Wert, wenn sie dem Leben des Einzelmenschen dient. Auch hier vertritt Nietzsche die Ansicht der starken Persönlichkeit und lehnt alles ab, was die schwachen Instinkte über die Kunst aussprechen. Fast alle deutschen Ästhetiker vertreten den Standpunkt der schwachen Instinkte. Die Kunst soll ein «Unendliches» im «Endlichen», ein «Ewiges» im «Zeitlichen», eine «Idee» in der «Wirklichkeit» darstellen. Für Schelling zum Beispiel ist alle sinnliche Schönheit nur ein Abglanz jener unendlichen Schönheit, die wir nie mit den Sinnen wahrnehmen können. Das Kunstwerk ist nicht um seiner selbst willen und durch das, was es ist, schön, sondern weil es die Idee der Schönheit abbildet. Das sinnliche Bild ist nur ein Ausdrucksmittel, nur die Form für einen übersinnlichen Inhalt. Und Hegel nennt das Schöne «das sinnliche Scheinen der Idee». Ähnliches kann man auch bei den andern deutschen Ästhetikern finden. Für Nietzsche ist die Kunst ein lebensförderndes Element, und nur, wenn sie dieses ist, hat sie Berechtigung. Wer das Leben, wie er es unmittelbar wahrnimmt, nicht ertragen kann, der formt es sich nach seinem Bedürfnisse um, und damit schafft er ein Kunstwerk. Und was will der Genießende vom Kunstwerk? Er will Erhöhung seiner Lebensfreude, Stärkung seiner Lebenskräfte, Befriedigung von Bedürfnissen, die ihm die Wirklichkeit nicht befriedigt. Aber er will, wenn sein Sinn auf das Wirkliche gerichtet ist, nicht durch das Kunstwerk den Abglanz des Göttlichen, Überirdischen erblicken. Hören wir, wie Nietzsche den Eindruck schildert, den Bizets Carmen auf ihn gemacht: «Ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein besserer Musikant, ein besserer Zuhörer. Kann man überhaupt noch besser zuhören? — Ich vergrabe meine Ohren noch unter diese Musik, ich höre deren Ursache. Es scheint mir, dass ich ihre Entstehung erlebe — ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagnis begleiten, ich bin entzückt über Glücksfälle, an denen Bizet unschuldig ist. — Und seltsam! im Grunde denke ich nicht daran, oder weiß es nicht, wie sehr ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen mir währenddem durch den Kopf... Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht? dem Gedanken Flügel gibt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? — Der graue Funktionen durch leichte, kühne, ausgelassne, selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten; wie als ob das eherne, das bleierne Leben durch goldene zärtliche ölgleiche Melodien seine Schwere verlieren sollte. Meine Schwermut will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit ausruhn: dazu brauche ich Musik.» («Nietzsche contra Wagner». Kap.: «Wo ich Einwände mache») — Im Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn täuschte sich Nietzsche über das, was seine Instinkte von der Kunst verlangen, deshalb war er damals ein Anhänger Wagners. Er hat sich durch das Studium der Schopenhauerschen Philosophie zum Idealismus verführen lassen. Er glaubte einige Zeit hindurch an den Idealismus und täuschte sich künstliche Bedürfnisse, ideale Bedürfnisse vor. Erst im weiteren Verlaufe seines Lebens merkte er, dass aller Idealismus seinen Trieben gerade entgegengesetzt ist. Er wurde nun aufrichtiger gegen sich selbst. Er sprach aus, wie er selbst empfand. Und das konnte nur zur vollständigen Ablehnung von Wagners Musik führen, die ja immer mehr den asketischen Charakter annahm, den wir bereits als Kennzeichen von Wagners letztem Wirkensziel aufgeführt haben. Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die großen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definierte eben das philosophische Pathos. — Und unversehens fallen mir Antworten in den Schoß, ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von gelösten Problemen ... Wo bin ich? — Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was gut ist.» — («Der Fall Wagner», § 1.) Weil Richard Wagners Musik eine solche Wirkung nicht auf ihn machte, deshalb lehnte sie Nietzsche ab: «Meine Einwände gegen die Musik Wagners sind physiologische Einwände... Meine ‹Tatsache›, mein ‹petit fait vrai› ist, dass ich nicht mehr leicht atme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuß gegen sie böse wird und revoltiert: er hat das Bedürfnis nach Takt, Tanz, Marsch... er verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem Gehn, Schreiten, Tanzen liegen. Protestiert aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? Betrübt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich nicht unversehens heiser dabei?... Und so frage ich mich: was will eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt?... Ich glaube, seine Erleichterung: wie als ob alle animalischen

Die Ästhetiker, die es der Kunst zur Aufgabe machen, die Idee zu versinnlichen, das Göttliche zu verkörpern, vertreten auf diesem Gebiete eine ähnliche Ansicht wie die philosophischen Nihilisten auf dem Gebiete der Erkenntnis und der Moral. Sie suchen in den Kunstobjekten ein Jenseitiges, das sich aber vor dem Wirklichkeitssinn in ein Nichts auflöst. Es gibt auch einen ästhetischen Nihilismus.

Diesem steht die Ästhetik der starken Persönlichkeit gegenüber, die in der Kunst ein Abbild der Wirklichkeit, eine höhere Wirklichkeit sieht, die der Mensch lieber genießt als die Alltäglichkeit.

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Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander gegenüber: den Schwachen und den Starken. Der erstere sucht die Erkenntnis als einen objektiven Tatbestand, der von der Außenwelt in seinen Geist einfließen soll. Er lässt sich sein Gutes und Böses von einem «ewigen Weltwillen» oder einem «kategorischen Imperativ» diktieren. Er bezeichnet jede nicht von diesem Weltwillen, sondern nur von dem schöpferischen Eigenwillen bestimmte Handlung als Sünde, die eine moralische Strafe nach sich ziehen muss. Er möchte für alle Menschen gleiche Rechte dekretieren und den Wert des Menschen nach einem äußeren Maßstabe bestimmen. Er möchte endlich in der Kunst ein Abbild des Göttlichen, eine Kunde aus dem Jenseits erblicken. Der Starke dagegen sieht alle Erkenntnis als den Ausdruck des Willens zur Macht an. Er sucht durch die Erkenntnis die Dinge denkbar und sich dadurch untertan zu machen. Er weiß, dass er selbst der Schöpfer der Wahrheit ist; dass niemand als er selbst sein Gutes und sein Böses schaffen kann. Er betrachtet die Handlungen des Menschen als Folgen natürlicher Triebe und lässt sie gelten als Naturereignisse, die niemals als Sünden zu betrachten sind und nicht eine moralische Verurteilung verdienen. Er sucht den Wert des Menschen in der Tüchtigkeit seiner Instinkte. Einen Menschen mit den Instinkten für Gesundheit, Geist, Schönheit, Ausdauer, Vornehmheit schätzt er höher als einen solchen mit den Instinkten für Schwäche, Hässlichkeit, Sklaverei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade, in dem es zur Steigerung seiner Kräfte beiträgt.

Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche unter seinem Übermenschen. Solche Übermenschen konnten bisher nur durch das Zusammentreffen zufälliger Umstände entstehen. Ihre Entwicklung zum bewussten Ziele der Menschheit zu machen, ist die Absicht, die Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der menschlichen Entwicklung in irgendwelchen Idealen. Hier hält Nietzsche eine Änderung der Anschauungen für nötig. Der «höherwertigere Typus ist oft genug schon da gewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; — und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch — der Christ ...» («Antichrist», § 3.)

Zarathustras Weisheit soll diesen Übermenschen, zu dem jener andere Typus nur ein Übergang ist, lehren.

Nietzsche nennt diese Weisheit eine dionysische. Es ist eine Weisheit, die nicht dem Menschen von außen gegeben wird; es ist eine selbstgeschaffene Weisheit. Der dionysische Weise forscht nicht; er schafft. Er steht nicht als Betrachter außer der Welt, die er erkennen will; er ist Eins geworden mit seiner Erkenntnis. Er sucht nicht nach einem Gotte; was er sich noch als göttlich vorstellen kann, ist nur Er selbst als Schöpfer seiner eigenen Welt. Wenn dieser Zustand auf alle Kräfte des menschlichen Organismus sich erstreckt, so gibt das den dionysischen Menschen, dem es unmöglich ist, irgendeine Suggestion nicht zu verstehen; er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinktes, wie er den höchsten Grad von Mitteilungskunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig. Dem dionysischen Weisen steht der bloße Betrachter gegenüber, der sich immer außerhalb seiner Erkenntnisobjekte stehend glaubt, als objektiver, leidender Zuschauer. Dem dionysischen Menschen steht der apollinische gegenüber, der «vor allem das Auge erregt hält, so dass es die Kraft der Vision bekommt». Visionen, Bilder von Dingen, die jenseits der Menschen-Wirklichkeit stehen, erstrebt der apollinische Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene Weisheit.

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Die apollinische Weisheit hat den Charakter des Ernstes. Sie empfindet die Herrschaft des Jenseits, das sie nur im Bilde besitzt, als einen schweren Druck, als eine ihr widerstrebende Macht. Ernst ist die apollinische Weisheit, denn sie glaubt sich im Besitze einer Kunde aus dem Jenseits, wenn diese auch nur durch Bilder, Visionen vermittelt sein soll. Schwer beladen mit seiner Erkenntnis wandelt der apollinische Geist einher, denn er trägt eine Bürde, die aus einer andern Welt stammt. Und den Ausdruck der Würde nimmt er an, denn vor den Kundgebungen des Unendlichen muss jedes Lachen verstummen.

Dieses Lachen aber charakterisiert den dionysischen Geist. Er weiß, dass alles, was er Weisheit nennt, nur seine Weisheit ist, von ihm erfunden, um sich das Leben leicht zu machen. Nur dieses Eine soll ja seine Weisheit sein: ein Mittel, das ihm erlaubt, zum Leben Ja zu sagen. Dem dionysischen Menschen ist der Geist der Schwere zuwider, weil er das Leben nicht erleichtert, sondern niederdrückt. Die selbstgeschaffene Weisheit ist eine heitere Weisheit, denn wer sich selbst seine Bürde schafft, der schafft sich nur eine solche, die er auch leicht tragen kann. Mit der selbstgeschaffenen Weisheit bewegt sich der dionysische Geist leicht durch die Welt wie ein Tänzer.

«Dass ich aber der Weisheit gut bin und oft zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an das Leben! Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr goldnes Angelrütchen: was kann ich dafür, dass die beiden sich so ähnlich sehn?» «In dein Auge schaute ich jüngst, O Leben: Gold sah ich in deinem Nacht-Auge blinken — mein Herz stand still vor dieser Wollust: — einen goldenen Kahn sah ich blinken auf nächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden, wieder winkenden goldenen Schaukel-Kahn! Nach meinem Fuße, dem tanzwütigen, warfst du einen Blick, einen lachenden, fragenden, schmelzenden Schaukel-Blick: Zweimal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Händen — da schaukelte mein Fuß vor Tanz-Wut. — Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen horchten, dich zu verstehen: doch trägt der Tänzer sein Ohr — in seinen Zehen!» («Zarathustra», z. u. 3. Teil. «Die Tanzlieder.»)

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Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle Antriebe seines Tuns entnimmt und keiner äußeren Macht gehorcht, ist er ein freier Geist. Denn ein freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur folgt. Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube, dass hier Nietzsche mit einem Namen eine Reihe von Antrieben zusammengefasst hat, die eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern. Nietzsche nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren vorhandenen Triebe zur Ernährung und Selbsterhaltung, wie auch die höchsten Antriebe der menschlichen Natur, zum Beispiel den Erkenntnistrieb, den Trieb, nach sittlichen Maßstäben zu handeln, den Trieb, sich an Kunstwerken zu ergötzen und so weiter. Nun sind zwar alle diese Triebe Äußerungsformen einer und derselben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene Stufen in der Entwicklung dieser Kraft dar. Die moralischen Antriebe zum Beispiel sind eine besondere Stufe der Instinkte. Wenn auch zugegeben werden kann, dass sie nur höhere Formen sinnlicher Instinkte sind, so treten sie doch im Menschen auf diese moralische Phantasie hat, ist wirklich frei, denn der Mensch muss nach bewussten Triebfedern handeln. Und wenn er solche nicht selbst produzieren kann, dann muss er sich dieselben von äußeren Autoritäten oder von dem in Form der Gewissensstimme in ihm sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch, der sich bloß seinen sinnlichen Instinkten überlässt, handelt wie ein Tier; ein Mensch, der seine sinnlichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt unfrei; erst der Mensch, der sich selbst Seine moralischen Ziele schafft, handelt frei. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muss notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch eine unbedingte Notwendigkeit, dass dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des Herkommens oder des «jenseitigen Willens», aber er ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte. eine besondere Art ins Dasein. Dies zeigt sich darin, dass es dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen, die nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurückzuführen sind, sondern nur auf jene Antriebe, die eben als höhere Formen des Instinktes zu bezeichnen sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Handelns, die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzuleiten sind, sondern nur aus dem bewussten Denken. Er setzt sich individuelle Zwecke vor, aber er setzt sich diese mit Bewusstsein vor. Und es ist ein großer Unterschied, ob er einem unbewusst entstandenen und erst hinterher in das Bewusstsein aufgenommenen Instinkte oder einem Gedanken folgt, den er von vornherein mit vollem Bewusstsein produziert hat. Wenn ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich drängt, so ist dies etwas wesentlich anderes, als wenn ich eine mathematische Aufgabe löse. Die denkende Erfassung der Welterscheinungen stellt eine besondere Form des allgemeinen Wahrnehmungsvermögens dar. Sie unterscheidet sich von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung. Dem Menschen sind nun die höheren Entwicklungsformen des Instinktlebens ebenso natürlich wie die niederen. Stehen beide nicht im Einklange, dann ist er zur Unfreiheit verurteilt. Es kann der Fall eintreten, dass eine schwache Persönlichkeit mit vollkommen gesunden sinnlichen Instinkten nur schwache geistige Instinkte hat. Dann wird sie zwar in bezug auf ihr Sinnenleben ihre eigene Individualität entfalten, aber die gedanklichen Antriebe ihres Handelns wird sie aus dem Herkommen entlehnen. Es kann eine Disharmonie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen Triebe drängen zum Ausleben der eigenen Persönlichkeit, die geistigen Antriebe stehen in dem Banne einer äußeren Autorität. Das Geistesleben einer solchen Persönlichkeit wird von den sinnlichen, das sinnliche Leben von den geistigen Instinkten tyrannisiert. Denn beide Gewalten gehören nicht zusammen, sind nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund entwickeltes individuelles sinnliches Triebleben, sondern auch die Fähigkeit, sich die gedanklichen Antriebe für das Leben zu schaffen. Erst derjenige Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern des Handelns zu schaffen, in meiner Schrift «Die Philosophie der Freiheit» die «moralische Phantasie» genannt. Nur wer

Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche, Eigenpersönliche im Menschen gerichtet. Er suchte dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus dem Mantel des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeindliche Weltanschauung eingehüllt hat. Aber er ist nicht dazu gekommen, die Stufen des Lebens innerhalb der Persönlichkeit selbst zu unterscheiden. Er hat deshalb die Bedeutung des Bewusstseins für die menschliche Persönlichkeit unterschätzt. «Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Tier, ein Mensch zugrunde geht, früher als es nötig wäre, ‹über das Geschick‹, wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zugrunde gehen», sagt Nietzsche. («Fröhliche Wissenschaft», § II.)

Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht minder wahr ist es, dass der Mensch nur insoweit frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern seines Handelns innerhalb des Bewusstseins schaffen kann.

Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern führt aber noch weiter. Es ist eine Tatsache der Erfahrung, dass diese gedanklichen Triebfedern, die die Menschen aus sich heraus produzieren, bei den einzelnen Individuen doch bis zu einem gewissen Grade eine Übereinstimmung zeigen. Auch wenn der einzelne Mensch ganz frei aus sich heraus Gedanken schafft, so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken anderer Menschen überein. Daraus folgt für den Freien die Berechtigung, anzunehmen, dass die Harmonie in der menschlichen Gesellschaft von selbst eintritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er kann diese Meinung dem Verteidiger der Unfreiheit gegenüberstellen, der glaubt, dass die Handlungen einer Mehrheit von Menschen nur zusammenstimmen, wenn sie durch eine äußere Gewalt nach einem gemeinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist ist deshalb durchaus kein Anhänger jener Ansicht, welche die tierischen Triebe absolut frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb abschaffen will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen, die nicht bloß ihren tierischen Instinkten folgen wollen, sondern die imstande sind, moralische Triebfedern, ihr eigenes Gutes und Böses, zu schaffen.

Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen hat, dass er die letzten Konsequenzen von dessen Weltanschauung zu ziehen vermag, trotzdem sie Nietzsche nicht selbst gezogen hat, kann in ihm einen Menschen sehen, der «mit einer gewissen stilistischen Wollust zu enthüllen den Mut gefunden hat, was bisher etwa im geheimsten Seelengrunde grandioser Verbrechertypen ... verborgen gelauert haben mag». (Ludwig Stein, «Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren», S. 5.) Noch immer ist die Durchschnittsbildung eines deutschen Professors nicht so weit, das Große einer Persönlichkeit von deren kleinen Irrtümern abzutrennen. Sonst könnte man es nicht erleben, dass die Kritik eines solchen Professors gerade gegen diese kleinen Irrtümer sich richtet. Ich denke, wahrhafte Bildung nimmt das Große einer Persönlichkeit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt halbfertige Gedanken zu Ende.