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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Das Christentum als Mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums
GA 8

Plato als Mystiker

Was innerhalb des griechischen Geisteslebens die Mysterien bedeutet haben, das kann man an der Weltanschauung Platos sehen. Es gibt nur ein Mittel, ihn vollständig zu verstehen: Man muß ihn in die Beleuchtung rücken, die von den Mysterien ausstrahlt. Die späten Schüler des Plato, die Neuplatoniker, schreiben ihm ja auch eine Geheimlehre zu, an der er nur die Würdigen teilnehmen ließ, und zwar unter dem «Siegel der Verschwiegenheit». Als geheimnisvoll in dem Sinne, wie die Mysterienweisheit es war, wurde seine Lehre angesehen. Wenn der siebente der platonischen Briefe auch nicht von ihm selbst herrührt, was behauptet wird, so besagt das doch für den Zweck, der hier verfolgt wird, nichts: denn ob er oder ein anderer über die Gesinnung, die in dem Briefe zum Ausdrucke kommt, sich in dieser Weise ausspricht, das kann uns gleichgültig sein. Diese Gesinnung lag eben im Wesen seiner Weltanschauung. Es heißt in dem Briefe: «So viel kann ich über alle sagen, welche geschrieben haben und schreiben werden, als wüßten sie, worauf meine Bestrebung geht, mögen sie es nun von mir oder von andern gehört haben oder es selbst ersonnen haben, daß ihnen in nichts Glauben beizumessen ist. Von mir selbst gibt es keine Schrift über diese Gegenstände, noch dürfte eine solche erscheinen; derartiges läßt sich in keiner Weise wie andere Lehren in Worte fassen, sondern bedarf langer Beschäftigung mit dem Gegenstände und des Hineinlebens in denselben; dann aber ist es, als ob ein Funke hervorspränge und ein Licht in der Seele entzündete, das sich nun selbst erhält.» — Diese Worte könnten nur auf eine Ohnmacht im Gebrauch der Worte hindeuten, die nur eine persönliche Schwäche wäre, wenn man in ihnen nicht den Mysteriensinn finden könnte. Das, worüber Plato nicht geschrieben hat und nie schreiben wollte, muß etwas sein, dem gegenüber das Schreiben vergeblich ist. Es muß ein Gefühl, eine Empfindung, ein Erlebnis sein, das nicht durch augenblickliche Mitteilung, sondern durch «Hineinleben» erworben wird. Auf die intime Erziehung ist gedeutet, die Plato den Auserwählten zu geben vermochte. Für sie sprang dann Feuer aus seinen Reden; für die andern sprangen nur Gedanken heraus. — Es ist eben nicht gleichgültig, wie man an Platos Gespräche herantritt. Je nach der geistigen Verfassung, in der man ist, sind sie einem weniger oder mehr. Von Plato ging auf seine Schüler noch mehr über als der Wortsinn seiner Darlegungen. Da wo er lehrte, lebten die Teilnehmer in Mysterienatmosphäre. Die Worte hatten Obertöne, die mitschwangen. Aber diese Obertöne brauchten eben die Mysterienatmosphäre. Sonst verklangen sie ungehört.

Im Mittelpunkt der platonischen Gesprächswelt steht die Persönlichkeit des Sokrates. Das Geschichtliche braucht hier nicht berührt zu werden. Auf den Charakter des Sokrates, wie er sich bei Plato findet, kommt es an. Sokrates ist eine durch den Tod für die Wahrheit geheiligte Person. Er ist gestorben, wie nur ein Eingeweihter sterben kann, dem der Tod nur ein Moment des Lebens ist wie andere. Er geht in den Tod wie zu einer anderen Begebenheit des Daseins. Er hatte sich so verhalten, daß selbst in seinen Freunden die Gefühle nicht erwachten, die sonst sich bei einer solchen Gelegenheit einzustellen pflegen. Phädon sagt das in dem «Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele»: «Fürwahr, mir meinesteils war ganz sonderbar zu Mute dabei. Mich wandelte gar kein Mitleid an wie einen, der bei dem Tode eines vertrauten Freundes zugegen ist; so glückselig erschien mir der Mann in seinem Benehmen und in seinen Reden; so standhaft und edel endete er, daß ich vertraute, er ginge auch in die Unterwelt nicht ohne göttliche Sendung, sondern würde auch dort sich wohl befinden, wenn je einer sonst. Darum nun kam mich gar keine weichherzige Regung an, wie man doch denken sollte bei solchem Trauerfall, noch andrerseits fröhliche Stimmung wie sonst wohl bei philosophischen Beschäftigungen, obwohl unsere Unterredungen von dieser Art waren; sondern in einem wunderbaren Zustand befand ich mich und in einer ungewohnten Mischung von Lust und Betrübnis, wenn ich bedachte, daß dieser Mann nun gleich sterben würde.» Und der sterbende Sokrates belehrt seine Schüler über die Unsterblichkeit. Die Persönlichkeit, welche Erfahrung hat über den Unwert des Lebens, wirkt hier als ganz anderer Beweis denn alle Logik, alle Vernunftgründe. Es ist, als ob nicht ein Mensch spräche; denn dieser Mensch ist eben ein hinübergehender, sondern als ob die ewige Wahrheit selbst spräche, die in einer vergänglichen Persönlichkeit ihre Stätte aufgeschlagen hat. Wo ein Zeitliches sich in nichts auflöst, da scheint die Luft zu sein, in der das Ewige klingen mag.

Keine Beweise im logischen Sinne hören wir über die Unsterblichkeit. Das ganze Gespräch ist darauf gerichtet, die Freunde dahin zu führen, wo sie das Ewige erblicken. Dann bedarf es ja für sie keiner Beweise. Wie soll man dem noch beweisen müssen, daß die Rose rot ist, der sie sieht? Wie soll man dem noch beweisen müssen, daß der Geist ewig ist, dem man die Augen öffnet, auf daß er diesen Geist sehe? — Erfahrungen, Erlebnisse sind es, auf die Sokrates hinweist. Erst ist es das Erlebnis mit der Weisheit selbst. Was will der, welcher nach Weisheit trachtet? Er will sich frei machen von dem, was ihm die Sinne in der alltäglichen Beobachtung bieten. Er will den Geist in der Sinnenwelt suchen. Ist das nicht eine Tatsache, die sich mit dem Sterben vergleichen läßt? «Nämlich diejenigen» — das ist des Sokrates Meinung — «die sich auf rechte Art mit Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die anderen merken, nach gar nichts anderem streben, als zu sterben und tot zu sein. Ist nun dies wahr: so wäre es doch wohl sonderbar, wenn sie ihr ganzes Leben hindurch zwar sich um nichts anderes bemühten als darum; wenn es nun aber selbst käme, unwillig zu sein über das, wonach sie so lange gestrebt und sich bemüht haben.» — Sokrates fragt einen seiner Freunde, um das zu bekräftigen: «Scheint dir es, daß es sich für den Philosophen gezieme, sich Mühe zu geben um die sogenannten sinnlichen Lüste, wie um ein leckeres Essen und Trinken? Oder um die Vergnügungen des Geschlechtstriebes? Und die übrige Besorgung des Leibes; glaubst du, daß ein solcher Mann sie sehr beachte? Wie schöne Kleider zu haben, Schuhe und andre Arten von Schmuck des Leibes, glaubst du, daß er das beachte oder verachte in höherem Grade als die äußerste Not hiervon zu haben erfordert? Dünkt dich also nicht überhaupt eines solchen Mannes ganze Beschäftigung nicht auf den Leib gerichtet zu sein, sondern so viel nur möglich von ihm abgekehrt und der Seele zugewendet? Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph: Ablösend seine Seele von der Gemeinschaft mit dem Leibe im Vorzug mit allen übrigen Menschen.» Darnach darf Sokrates schon eines sagen: das Weisheitsstreben hat das mit dem Sterben gleich, daß der Mensch sich von dem Leiblichen abkehrt. Aber wohin wendet er sich denn? Er wendet sich dem Geistigen zu. Kann er aber von dem Geiste dasselbe wollen wie von den Sinnen? Sokrates spricht sich darüber aus: «Wie aber steht es nun mit der vernünftigen Einsicht selbst? Ist dabei der Leib im Wege oder nicht, wenn man ihn bei dem Streben darnach zum Gefährten annimmt? Ich meine so: Gewähren wohl Gesicht und Gehör dem Menschen einige Wahrheit? Oder singen nur die Dichter das immer so vor: daß wir nichts genau hören noch sehen? ... Wann also trifft die Seele die Wahrheit? Denn wenn sie mit des Leibes Hilfe versucht etwas zu betrachten, dann wird sie offenbar von diesem betrogen. » Alles was wir mit den Sinnen des Leibes wahrnehmen, entsteht und vergeht. Und dieses Entstehen und Vergehen bewirkt eben, daß wir betrogen werden. Aber wenn wir durch die vernünftige Einsicht tiefer in die Dinge hineinschauen, dann wird uns in ihnen das Ewige zuteil. Also bieten uns die Sinne nicht das Ewige in seiner wahren Gestalt. Sie sind in dem Augenblicke Betrüger, wenn wir ihnen unbedingt vertrauen. Sie hören auf uns zu betrügen, wenn wir ihnen die denkende Einsicht gegenüberstellen und ihre Aussagen der Prüfung dieser Einsicht unterwerfen. Wie könnte aber die denkende Einsicht über die Aussagen der Sinne zu Gericht sitzen, wenn in ihr nicht etwas lebte, was über die Wahrnehmungen der Sinne hinausgeht? Also, was wahr und falsch an den Dingen ist, darüber entscheidet in uns etwas, was sich dem sinnlichen Leibe entgegenstellt, was also nicht seinen Gesetzen unterworfen ist. Es darf dieses Etwas vor allem nicht den Gesetzen seines Werdens und Vergehens unterworfen sein. Denn dieses Etwas hat das Wahre in sich. Nun kann aber das Wahre nicht ein Gestern und Heute haben; es kann nicht einmal dies, das andere Mal jenes sein, wie die sinnlichen Dinge. Also muß das Wahre selbst ein Ewiges sein. Und indem sich der Philosoph von dem Sinnlich-vergänglichen ab- und dem Wahren zuwendet, tritt er zugleich an ein Ewiges heran, das in ihm wohnt. Und versenken wir uns ganz in den Geist, dann leben wir ganz in dem Wahren. Das Sinnliche um uns ist nicht mehr bloß in seiner sinnlichen Gestalt vorhanden. «Und der kann dies wohl am reinsten ausrichten», sagte Sokrates, «der mit dem Geiste so viel als möglich allein an jedes geht, ohne weder das Gesicht mit umzuwenden beim Denken, noch irgend einen anderen Sinn mit zuzuziehen bei seinem Nachdenken, sondern sich des reinen Gedankens allein bedienend, auch jegliches rein für sich zu fassen trachtet, so viel als möglich geschieden von Augen und Ohren, und, um es kurz zu sagen, von dem ganzen Leibe, der nur die Seele stört und sie nicht die Wahrheit und Einsicht erlangen läßt, wenn er mit dabei ist. Heißt nun nicht der Tod die Erlösung und Absonderung der Seele vom Leibe? Und sie zu lösen, streben immer am meisten nur allein die wahrhaften Philosophen; also ist das das Geschäft des Philosophen: Befreiung und Absonderung der Seele vom Leibe. Töricht ist deshalb, wenn ein Mann, der sich in seinem ganzen Leben darauf eingerichtet hat, so nahe als möglich dem Tode zu sein, nachher, wenn dieser kommt, sich ungebärdig stellen wollte . . . In der Tat trachten die richtigen Weisheitsucher darnach zu sterben, und der Tod ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar.» Auch alle höhere Sittlichkeit gründet Sokrates auf die Befreiung vom Leibe. Wer nur dem folgt, was ihm sein Leib gebietet, der ist nicht sittsam. Wer ist tapfer? fragt Sokrates. Derjenige ist tapfer, der nicht seinem Leibe folgt, sondern auch dann den Forderungen seines Geistes folgt, wenn diese Forderungen den Leib gefährden. Und wer ist besonnen? Heißt nicht besonnen sein, sich «von Begierden nicht fortreißen zu lassen, sondern sich gleichgültig gegen sie zu verhalten und sittsam; kommt nicht also auch die Besonnenheit allein denen zu, welche den Leib am meisten gering schätzen und in der Liebe zur Weisheit leben? » Und so ist es nach Sokrates Meinung mit allen Tugenden.

Sokrates schreitet zur Charakteristik der vernünftigen Einsicht selbst vor. Was heißt denn überhaupt Erkennen? Zweifellos gelangen wir dadurch zur Erkenntnis, daß wir uns Urteile bilden. Nun wohl: ich bilde mir über einen Gegenstand ein Urteil; zum Beispiel ich sage mir: dies, was da vor mir steht, ist ein Baum. Wie komme ich dazu, mir das zu sagen? Ich werde es nur können, wenn ich schon weiß, was ein Baum ist. Ich muß mich erinnern an meine Vorstellung von dem Baume. Ein Baum ist ein sinnliches Ding. Wenn ich mich an einen Baum erinnere, dann also erinnere ich mich an einen sinnlichen Gegenstand. Ich sage von einem Dinge: es sei ein Baum, wenn es andern Dingen gleicht, die ich früher wahrgenommen habe und von denen ich weiß, daß sie Bäume sind. Die Erinnerung vermittelt mir die Erkenntnis. Die Erinnerung ermöglicht mir den Vergleich der mannigfaltigen sinnlichen Dinge untereinander. Aber darin erschöpft sich meine Erkenntnis nicht. Wenn ich zwei Dinge sehe, die gleich sind, so bilde ich mir das Urteil: diese Dinge sind gleich. Nun sind in der Wirklichkeit niemals zwei Dinge ganz gleich. Ich kann überall nur in einer gewissen Beziehung eine Gleichheit finden. Der Gedanke der Gleichheit tritt also in mir auf, ohne daß er in der sinnlichen Wirklichkeit ist. Er verhilft mir zu einem Urteil, wie mir die Erinnerung zu einem Urteil, zu einer Erkenntnis verhilft. Wie ich mich bei dem Baum an Bäume erinnere, so erinnere ich mich bei zwei Dingen, wenn ich sie in einer gewissen Beziehung betrachte, an den Gedanken der Gleichheit. Es treten also in mir Gedanken wie Erinnerungen auf, die nicht aus der sinnlichen Wirklichkeit erworben sind. Alle Erkenntnisse, die nicht aus dieser Wirklichkeit entlehnt sind, fußen auf solchen Gedanken. Die ganze Mathematik besteht nur aus solchen Gedanken. Der würde ein schlechter Geometer sein, der nur das in mathematische Beziehungen bringen könnte, was er mit Augen sehen, mit Händen greifen kann. Also haben wir Gedanken, die nicht aus der vergänglichen Natur stammen, sondern die aus dem Geiste aufsteigen. Und gerade diese tragen das Merkmal ewiger Wahrheit an sich. Ewig wahr wird sein, was die Mathematik lehrt; auch wenn morgen das ganze Weltgebäude einstürzte und sich ein ganz neues aufbaute. Es könnten für ein anderes Weltgebäude solche Bedingungen gelten, daß die gegenwärtigen mathematischen Wahrheiten nicht anwendbar wären; in sich wahr blieben sie aber doch. Wenn die Seele mit sich allein ist, dann nur kann sie solche ewige Wahrheiten aus sich hervorbringen. Also ist die Seele dem Wahren, dem Ewigen verwandt und nicht dem Zeitlichen, Scheinbaren. Daher sagt Sokrates: «Wenn die Seele durch sich selbst Betrachtungen anstellt, dann geht sie zu dem Reinen und immer Seienden und Unsterblichen und sich selbst Gleichen, und als diesem verwandt, hält sie sich zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt wird, und dann hat sie Ruhe von ihrem Irren und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie eben solches berührt, und diesen ihren Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit. Sieh nun zu, ob aus allem Gesagten nicht hervorgeht, daß dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, Einartigen, Unauflöslichen und immer gleich und sich selbst gleichartig Verhaltenden die Seele am ähnlichsten ist; dem Menschlichen und Sterblichen und Unvernünftigen und Vielgestaltigen und Auflöslichen und nie gleich und sich selbst gleichartig Bleibenden wiederum der Leib am ähnlichsten ist. Also wenn sich das so verhält, so geht die Seele zu dem ihr ähnlichen Gestaltlosen und zu dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, wo sie dann dazu gelangt, glückselig zu sein, von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe und allen andern menschlichen Übeln befreit, und lebt dann, wie es bei den Eingeweihten heißt, wahrhaft die übrige Zeit mit Gott. »Es kann hier nicht die Aufgabe sein, alle Wege zu zeigen, die Sokrates seine Freunde zum Ewigen hingeleitet. Alle atmen ja denselben Geist. Alle sollen zeigen, daß der Mensch ein anderes findet, wenn er die Wege der vergänglichen Sinneswahrnehmung wandelt, und ein anderes, wenn sein Geist mit sich allein ist. Und auf diese ureigene Natur des Geistigen weist Sokrates die hin, die ihm zuhören. Finden sie es, dann sehen sie ja mit Geistesaugen selbst, daß es ewig ist. Der sterbende Sokrates beweist nicht die Unsterblichkeit; er zeigt einfach das Wesen der Seele. Und dann stellt sich heraus, daß Werden und Vergehen, Geburt und Tod mit dieser Seele nichts zu tun haben. Das Wesen der Seele ist in dem Wahren gelegen; das Wahre aber kann nicht werden und vergehen. So viel wie das Gerade mit dem Ungeraden, hat die Seele mit dem Werden zu tun. Der Tod aber gehört dem Werden an. Also hat die Seele mit dem Tode nichts zu tun. Muß man nicht von dem Unsterblichen sagen, daß es das Sterbliche so wenig annehme wie das Gerade das Ungerade. Muß man nicht sagen, meint davon ausgehend Sokrates, daß «wenn das Unsterbliche auch unvergänglich ist, die Seele unmöglich, wenn der Tod an sie kommt, untergehen kann. Denn den Tod kann sie ja nach dem vorhin Erwiesenen nicht annehmen, noch kann sie gestorben sein, wie die Drei niemals gerade sein kann.»

Man überblicke die ganze Entwicklung in diesem Gespräche, in dem Sokrates seine Zuhörer dahin führt, daß sie das Ewige in der menschlichen Persönlichkeit schauen. Die Zuhörer nehmen seine Gedanken auf; sie forschen in sich selbst, ob sich in ihren eigenen inneren Erlebnissen etwas findet, wodurch sie zu seinen Ideen «ja» sagen können. Sie machen die Einwände, die sich ihnen aufdrängen. Was ist mit den Zuhörern geschehen, wenn das Gespräch sein Ende erreicht hat? Sie haben in sich etwas gefunden, was sie vorher nicht gehabt haben. Sie haben nicht bloß eine abstrakte Wahrheit in sich aufgenommen; sie haben eine Entwicklung durchgemacht. Es ist etwas in ihnen lebendig geworden, was vorher nicht in ihnen lebte. Ist das nicht etwas, was sich mit einer Einweihung vergleichen läßt? Wirft das nicht ein Licht darauf, warum Plato seine Philosophie in Gesprächsform dargelegt hat? Es sollen diese Gespräche eben nichts anderes sein als die literarische Form für die Vorgänge in den Mysterienstätten. Was Plato selbst an vielen Stellen sagt, überzeugt uns davon. Als philosophischer Lehrer hat Plato sein wollen, was der Einweihende in den Mysterien war; so gut man das mit der philosophischen Art der Mitteilung sein kann. Wie weiß sich doch Plato in Übereinstimmung mit der Art der Mysterien! Wie hält er seine Art nur dann für die rechte, wenn sie dorthin führt, wohin der Myste geführt werden soll! Darüber spricht er sich im Timäos aus: «Alle die einigermaßen die rechte Gesinnung haben, rufen bei kleinen und großen Unternehmungen die Götter an; wir aber, die über das All zu lehren vorhaben, inwiefern es entstanden und unentstanden ist, müssen doch besonders, wenn wir nicht völlig abgeirrt sind, die Götter und Göttinnen anrufen und beten, alles zunächst in ihrem Geiste und dann in Übereinstimmung mit uns selbst zu lehren.» Und denjenigen, die auf einem solchen Wege suchen, verspricht Plato «daß die Gottheit als Retter die verirrliche und so weit abseits liegende Untersuchung in einer einleuchtenden Lehre ihren Abschluß finden lasse».

Der «Timäos» ist es besonders, der uns den Mysteriencharakter der platonischen Weltanschauung enthüllt. Gleich im Anfange dieses Gespräches ist von einer «Einweihung» die Rede. Solon wird von einem ägyptischen Priester in das Werden der Welten «eingeweiht» und in die Art, wie in überlieferten Mythen bildlich ewige Wahrheiten ausgesprochen werden. «Es haben schon viele und vielerlei Vertilgungen der Menschen stattgefunden (so lehrt der ägyptische Priester den Solon) und werden auch fernerhin noch stattfinden, die umfänglichsten durch Feuer und Wasser, andere, geringere aber durch unzählige andere Ursachen. Denn was auch bei euch erzählt wird, daß einst Phaeton, der Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters bestieg und, weil er es nicht verstand auf dem Wege seines Vaters zu fahren, alles auf der Erde verbrannte und er selber vom Blitze erschlagen wurde, das klingt zwar wie eine Fabel, doch ist das Wahre daran die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden Himmelskörper und die Vernichtung von allem, was auf der Erde befindlich ist, durch vieles Feuer, welche nach dem Verlauf gewisser großer Zeiträume eintreten.» — In dieser Timäosstelle ist ein deutlicher Hinweis darauf enthalten, wie sich der Eingeweihte zu den Mythen des Volkes verhält. Er erkennt die Wahrheiten, die in ihren Bildern verhüllt sind.

Das Drama des Weltwerdens wird im Timäos vorgeführt. Wer den Spuren nachgehen will, die zu diesem Weltwerden führen, der kommt zu der Ahnung der Urkraft, aus der alles geworden ist. «Den Schöpfer und Vater dieses Alls nun ist es schwierig zu finden; und wenn man ihn gefunden hat, unmöglich, sich für alle verständlich über ihn auszusprechen.» Der Myste wußte, was mit dieser «Unmöglichkeit» gemeint ist. Sie deutet auf das Drama des Gottes. Dieser ist ja für ihn nicht im Sinnlich-Verständigen vorhanden. Da ist er nur als Natur vorhanden. Er ist in der Natur verzaubert. Nur der kann sich ihm, nach der alten Mysten-Meinung, nähern, der das Göttliche in sich selbst erweckt. Also kann er nicht ohne weiteres für alle verständlich gemacht werden. Aber selbst für den, der sich ihm nähert, erscheint er nicht selbst. Das besagt der Timäos. Aus Weltleib und Weltseele hat der Vater die Welt gemacht. Harmonisch, in vollkommenen Proportionen hat er die Elemente gemischt, die entstanden, als er sich selbst vergießend ein eigenes besonderes Sein hingab. Dadurch wurde der Weltleib. Und gespannt auf diesen Weltleib ist in Kreuzesform die Weltseele. Sie ist das Göttliche in der Welt. Sie hat den Kreuzestod gefunden, auf daß die Welt sein könne. Das Grab des Göttlichen darf also Plato die Natur nennen. Doch nicht ein Grab, in dem ein Totes liegt, sondern ein Ewiges, für das der Tod nur die Gelegenheit gibt, die Allmacht des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Und derjenige Mensch erblickt diese Natur in dem rechten Lichte, der vor sie hintritt, die gekreuzigte Weltseele zu erlösen. Auferstehen soll sie von ihrem Tode, aus ihrer Verzauberung. Wo kann sie wieder aufleben? Allein in der Seele des eingeweihten Menschen. Die Weisheit findet ihr rechtes Verhältnis damit zum Kosmos. Die Auferstehung, die Erlösung Gottes: das ist die Erkenntnis. Von dem Unvollkommenen zum Vollkommenen wird im Timäos die Weltentwicklung verfolgt. Ein aufsteigender Prozeß stellt sich in der Vorstellung dar. Die Wesen entwickeln sich. Gott enthüllt sich in dieser Entwicklung. Das Werden ist eine Auferstehung Gottes aus dem Grabe. Innerhalb der Entwicklung tritt der Mensch auf. Plato zeigt, daß mit dem Menschen etwas besonderes da ist. Zwar ist die ganze Welt ein Göttliches. Und der Mensch ist nicht göttlicher als die anderen Wesen. Aber in den anderen Wesen ist Gott auf verborgene Art, in dem Menschen auf offenbare Art gegenwärtig. Am Ende des Timäos steht: «und nunmehr möchten wir denn auch behaupten, daß unsere Erörterungen über das All ihr Ziel erreicht haben, denn nachdem diese Welt in der geschilderten Weise mit sterblichen und unsterblichen lebenden Wesen ausgerüstet und erfüllt worden, ist sie (so selbst) zu einem sichtbaren Wesen dieser Art geworden, welches alles Sichtbare umfaßt, zu einem Abbilde des Schöpfers und sinnlich wahrnehmbaren Gott und zur größten und besten, zur schönsten und vollendetsten (die es geben konnte) geworden, diese eine und eingeborene Welt.»

Aber diese eine und eingeborene Welt wäre nicht vollkommen, wenn sie nicht unter ihren Abbildern auch das Abbild des Schöpfers selbst hätte. Nur aus der Menschenseele heraus kann dieses Abbild geboren werden, Nicht den Vater selbst, aber den Sohn, den in der Seele lebenden Sprossen Gottes, der gleich ist dem Vater: ihn kann der Mensch gebären.

Als den «Sohn Gottes» bezeichnete Philo, von dem man sagte, daß er der wiedererstandene Plato sei, die aus dem Menschen geborene Weisheit, welche in der Seele lebt und die in der Welt vorhandene Vernunft zum Inhalte hat. Diese Weltvernunft, der Logos, erscheint als das Buch, in dem «aller Weltbestand eingetragen und gezeichnet ist». Sie erscheint weiter als der Sohn Gottes: «die Wege des Vaters nachahmend formt er, auf die Urbilder schauend, die Gestalten». Diesen Logos spricht der platonisierende Philo wie den Christus an: «Da Gott der erste und einzige König des Alls ist, so ist der Weg zu ihm mit Recht der Königliche genannt worden; als diesen aber betrachte die Philosophie. den Weg, welchen der Chor der alten Asketen wandelte, abgewandt von dem bestrickenden Zauber de» Lust, der würdigen und ernsten Pflege des Schönen hingegeben; diesen Königlichen Weg, den wir die wahre Philosophie nennen, heißt das Gesetz: Gottes Wort und Geist.»

Wie eine Einweihung empfindet es Philo, wenn er diesen Weg betritt, um dem Logos zu begegnen, der ihm Gottes Sohn ist: «Ich scheue mich nicht, mitzuteilen, was mir selbst unzählige Male geschehen ist. Manchmal, wenn ich in gewohnter Weise meine philosophischen Gedanken niederschreiben wollte und ganz scharf sah, was festzustellen wäre, fand ich doch meinen Geist unfruchtbar und steif, so daß ich ohne etwas fertig zu bringen, ablassen mußte und mir in nichtigem Wähnen befangen vorkam; zugleich aber staunte über die Gewalt des Gedanklich-Realen, bei der es steht, den Schoß der Menschenseele zu öffnen und zu schließen. Andermal aber fing ich leer an und kam ohne weiteres zur Fülle, indem die Gedanken wie Schneeflocken oder Samenkörner von obenher unsichtbar herabgeflogen kamen, und es mich wie göttliche Kraft ergriff und begeisterte, so daß ich nicht wußte, wo ich bin, wer bei mir ist, wer ich selber bin, was ich sage, was ich schreibe: denn jetzt war mir der Fluß der Darstellung gegeben, eine wonnige Helle, scharfer Blick, klare Beherrschung des Stoffes, wie wenn das innere Auge nun alles mit der größten Deutlichkeit erkennen könnte.» — Das ist die Schilderung eines Erkenntnisweges, die so gehalten ist, daß man sieht, der diesen Weg geht, ist sich bewußt, daß, wenn der Logos in ihm lebendig wird, er mit dem Göttlichen zusammenfließt. Klar kommt das auch noch in den Worten zum Ausdruck: «Wenn der Geist, von der Liebe ergriffen, in das Heiligste seinen Flug nimmt, freudigen Schwunges, gottbeflügelt, so vergißt er alles andere und sich selbst, er ist nur von dem erfüllt und an den geschmiegt, dessen Trabant und Diener er ist, und dem er die heiligste und keuscheste Tugend als Rauchopfer darbringt.» — Es gibt für Philo nur zwei Wege. Entweder man folgt dem Sinnlichen, dem, was Wahrnehmung und Verstand bieten, dann beschränkt man sich auf die eigene Persönlichkeit, man entzieht sich dem Kosmos; oder aber man wird sich der kosmischen Allkraft bewußt; dann erlebt man innerhalb der Persönlichkeit das Ewige. «Wer Gott umgehen will, fällt sich selbst in die Hände; denn es kommt zweierlei in Frage: der Allgeist, welcher Gott ist, und der eigene Geist; der letztere entflieht und flüchtet zum Allgeist; denn wer über seinen eigenen Geist hinausgeht, sagt sich, daß dieser ein Nichts sei und knüpft alles an Gott; wer aber Gott ausweicht, hebt diesen Urgrund auf und macht sich zum Grunde von allem was geschieht.»

Eine Erkenntnis, die durch ihre ganze Art Religion ist, will die platonische Weltanschauung sein. Sie bringt die Erkenntnis in Beziehung zu dem Höchsten, das der Mensch mit seinen Gefühlen erreichen kann. Nur wenn in der Erkenntnis das Gefühl sich am vollständigsten befriedigen kann, vermag Plato diese Erkenntnis gelten zu lassen. Sie ist dann nicht bildhaftes Wissen; sie ist Lebensinhalt. Sie ist ein höherer Mensch im Menschen. Derjenige Mensch, von dem die Persönlichkeit nur Abbild ist. In dem Menschen selbst wird der überragende, der Urmensch geboren. Und damit wäre wieder ein Mysteriengeheimnis in der platonischen Philosophie zum Ausdruck gebracht. Der Kirchenvater Hippolytos weist auf dieses Geheimnis hin: «Das ist das große Geheimnis der Samothraker (der Hüter eines bestimmten Mysterienkultus), das man nicht aussprechen kann, und das nur die Eingeweihten kennen. Diese aber wissen ausführlich von Adam als ihrem Urmenschen zu berichten.»

Eine «Einweihung» stellt auch das Platonische «Gespräch über die Liebe», das «Symposion» dar. Hier erscheint die Liebe als die Vorverkünderin der Weisheit. Ist die Weisheit, das ewige Wort (Logos) der Sohn des ewigen Weltschöpfers, so hat die Liebe eine mütterliche Beziehung zu diesem Logos. Bevor auch nur ein lichter Funke des Weisheitslichtes in der menschlichen Seele aufleuchten kann, muß ein dunkler Drang, ein Zug zu diesem Göttlichen vorhanden sein. Unbewußt muß es den Menschen zu dem ziehen, was nachher, ins Bewußtsein erhoben, sein höchstes Glück ausmacht. Was bei Heraklit als der Dämon im Menschen auftritt, damit verbindet sich die Vorstellung der Liebe. — Im «Symposion» sprechen sich Menschen verschiedensten Standes und verschiedenster Lebensauffassung über die Liebe aus: der Alltagsmensch, der Politiker, der Wissenschaftler, der Komödiendichter Aristophanes und der ernste Dichter Agathon. Sie haben, den Erfahrungen ihrer Lebenslage gemäß, jeder ihre Anschauungen über die Liebe. Wie sie sich äußern, dadurch kommt zum Vorschein, auf welcher Stufe ihr «Dämon» steht. Durch die Liebe wird ein Wesen zum andern hingezogen. Das Mannigfaltige, die Vielheit der Dinge, in welche die göttliche Einheit zerflossen ist, strebt durch die Liebe zur Einheit, zur Harmonie. Etwas Göttliches hat also die Liebe. Jeder kann sie daher nur so verstehen, wie er selbst des Göttlichen teilhaftig ist. Nachdem die Menschen verschiedener Reifestufen ihre Gedanken von Liebe dargelegt haben, ergreift Sokrates das Wort. Er betrachtet als Erkenntnismensch die Liebe. Für ihn ist sie kein Gott. Aber sie ist etwas, das den Menschen zu Gott hinführt. Eros, die Liebe, ist ihm kein Gott. Denn der Gott ist vollkommen, also hat er das Schöne und Gute. Aber Eros ist nur das Verlangen nach dem Schönen und Guten. Er steht also zwischen dem Menschen und Gott. Er ist ein «Dämon», ein Mittler zwischen Irdischem und Göttlichem. — Es ist bedeutsam, daß Sokrates nicht seine Gedanken zu geben behauptet, da wo er über die Liebe spricht. Er sagt, er erzähle nur, was ihm eine Frau als Offenbarung darüber gegeben habe. Eine mantische Kunst ist es, durch die er zu einer Vorstellung von der Liebe gekommen ist. Diotime, die Priesterin, hat in Sokrates erweckt, was als dämonische Kraft in ihm zum Göttlichen führen soll. Sie hat ihn «eingeweiht». — Vielsagend ist dieser Zug des «Symposion». Man muß fragen: wer ist die «weise Frau», die in Sokrates den Dämon erweckt? Man kann hier nicht an bloße dichterische Einkleidung denken. Denn keine sinnlich-wirkliche weise Frau könnte den Dämon in der Seele wecken, wenn die Kraft zu dieser Erweckung nicht in der Seele selbst wäre. In der eigenen Seele des Sokrates müssen wir doch auch diese «weise Frau» suchen. Aber es muß ein Grund vorhanden sein, der als äußerlich-wirkliches Wesen das erscheinen läßt, was in der Seele selbst den Dämon zum Dasein bringt. Diese Kraft kann nicht so wirken wie die Kräfte, die man in der Seele als zu ihr gehörig, als in ihr heimisch, beobachten kann. Man sieht, es ist die Seelenkraft vor Empfang der Weisheit, die Sokrates als «weise Frau» hinstellt. Es ist das mütterliche Prinzip, das den Sohn Gottes, die Weisheit, den Logos gebiert. Als weibliches Element wird die unbewußt wirkende Kraft der Seele hingestellt, die das Göttliche ins Bewußtsein eintreten läßt. Die noch weisheitslose Seele ist die Mutter dessen, was zum Göttlichen führt. Man wird da auf eine wichtige Vorstellung der Mystik geführt. Die Seele wird als die Mutter des Göttlichen anerkannt. Unbewußt führt sie mit der Notwendigkeit einer Naturkraft den Menschen zum Göttlichen hin. — Ein Licht strahlt von da aus auf die Mysterienanschauung von der griechischen Mythologie. Die Götterwelt ist in der Seele geboren. Der Mensch sieht, was er selbst in Bildern schafft, als seine Götter an. Aber er muß noch zu einer anderen Vorstellung vordringen. Er muß auch die göttliche Kraft in sich, die vor Erschaffung der Götterbilder tätig ist, in Götterbilder wandeln. Hinter dem Göttlichen tritt die Mutter des Göttlichen auf, die nichts anderes als die ursprüngliche menschliche Seelenkraft ist. Neben die Götter stellt der Mensch die Göttinnen hin. Man betrachte den Dionysos-Mythos in dem Lichte, das da gewonnen ist. Dionysos ist der Sohn des Zeus und einer sterblichen Mutter, der Semele. Der vom Blitze erschlagenen Mutter entreißt Zeus das noch unreife Kind und birgt es bis zur Reife in der eigenen Hüfte. Hera, die Göttermutter, reizt die Titanen gegen Dionysos auf. Sie zerstückeln den Knaben. Aber Pallas Athene rettet das noch schlagende Herz und bringt es dem Zeus. Er erzeugt darauf den Sohn zum zweiten Male. Man sieht genau in diesem Mythos einen Vorgang, der sich im Innersten der menschlichen Seele abspielt. Und wer im Sinne des ägyptischen Priesters spräche, der den Solon über die Natur eines Mythos belehrt, der könnte so sprechen: Was bei euch erzählt wird, daß Dionysos, der Sohn des Gottes und einer sterblichen Mutter geboren, zerstückelt und noch einmal geboren ist, das klingt zwar wie eine Fabel, doch das Wahre daran ist die Geburt des Göttlichen und sind dessen Schicksale in der eigenen menschlichen Seele. Das Göttliche verbindet sich mit der zeitlich-irdischen Menschenseele. Sobald nur dieses Göttliche, Dionysische, sich regt, empfindet die Seele ein heftiges Verlangen nach seiner wahren geistigen Gestalt. Das Bewußtsein, das wieder im Bilde einer weiblichen Gottheit, Hera, erscheint, wird eifersüchtig auf die Geburt aus dem besseren Bewußtsein. Es stachelt die niedere Natur des Menschen auf — (die Titanen). Das noch unreife Gotteskind wird zerstückelt. So ist es im Menschen vorhanden als zerstückelte sinnlich-verständige Wissenschaft. Ist im Menschen aber so viel von der höheren Weisheit (Zeus) vorhanden, daß diese wirksam ist, dann hegt und pflegt diese das unreife Kind, das dann als zweiter Gottessohn (Dionysos) wiedergeboren wird. So wird aus der Wissenschaft, der zerstückelten göttlichen Kraft im Menschen, die einheitsvolle Weisheit geboren, die der Logos ist, der Sohn Gottes und einer sterblichen Mutter, der vergänglichen, unbewußt nach dem Göttlichen hinstrebenden Menschenseele. Solange man in alledem nur einen bloßen Seelenvorgang sieht und es etwa als Bild eines solchen auffaßt, ist man weit entfernt von der geistigen Wirklichkeit, die sich da abspielt. In dieser geistigen Wirklichkeit erlebt die Seele nicht bloß etwas in sich; sondern sie ist ganz von sich losgekommen und erlebt einen Weltvorgang mit, der in Wahrheit gar nicht in ihr, sondern außer ihr sich abspielt.

Platonische Weisheit und griechischer Mythos schließen sich zusammen; ebenso Mysterienweisheit und Mythos. Die erzeugten Götter waren Gegenstand der Volksreligion; die Geschichte ihrer Entstehung war das Geheimnis der Mysterien. Kein Wunder, daß es für gefährlich galt, die Mysterien zu «verraten». Man «verriet» ja damit die Herkunft der Volksgötter. Und das richtige Verständnis über diese Herkunft ist heilsam; das Mißverständnis verderblich.