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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Die Stufen der Höheren Erkenntnis
GA 12

Die Stufen der Höheren Erkenntnis

Die von Rudolf Steiner im Dienste der Geisteswissenschaft herausgegebene Zeitschrift «Luzifer» erfuhr im Jahre 1904 eine Erweiterung durch ihre Vereinigung mit der in Österreich erscheinenden Zeitschrift «Gnosis». Unter dem Doppelnamen «Lucifer-Gnosis» brachte sie dann jene Aufsätze Rudolf Steiners, die später, gesammelt, das Buch wurden, das neben der «Theosophie» und «Geheimwissenschaft» zu den grundlegenden Werken gehört für die Einführung in die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Eine Fortsetzung jener Aufsätze erschien unter dem Titel «Die Stufen der höheren Erkenntnis». Es war gedacht, sie späterhin zu einem zweiten Bande zu gestalten, als Weiterführung der in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» begonnenen Betrachtungen. Die Überfülle der Arbeit jedoch, die außerordentliche Inanspruchnahme Rudolf Steiners durch Vortragstätigkeit, machte es allmählich unmöglich, sich der Zeitschrift in genügendem Maße zu widmen, obgleich sie an Verbreitung stetig gewann. Aus Mangel an Zeit mußte sie eingestellt werden. So wurde denn auch das weitere Erscheinen jener Aufsätze über «Die Stufen der höheren Erkenntnis» unterbrochen. Es ist öfters die Bitte an uns herangetreten, durch eine Neuausgabe sie wieder zugänglich zu machen. Diesem Wunsche wird hiermit nachgekommen. Da der Text plötzlich abbricht, kann das Buch nicht den Wert der Vollständigkeit beanspruchen. So war es berechtigt, sich die Frage zu stellen, ob die Herausgabe nicht besser unterbleiben solle. Die hier in Aussicht gestellten nicht zum Abschluß gekommenen Darlegungen sind ja vielfach in anderer Form, unter anderen Titeln schon veröffentlicht worden. Doch bleibt es für den Geistessucher eine Tatsache, daß die Eroberung der geistigen Wirklichkeit nur dann möglich ist und keine Illusion, wenn immer wieder zurückgegriffen wird zu den einmal durchgearbeiteten, nie genug verarbeiteten geistigen Inhalten, wenn immer wieder der Weg neu erlebt wird, der einmal die Richtung zum Geistgebiet gewiesen hat. Das Seelenleben des meditativ Arbeitenden muß so beweglich gehalten werden, daß die Ausblicke, die ihm der eine Weg gegeben hat, ihn um so empfänglicher machen für die Fernblicke von anderen Gesichtspunkten aus.

Die hier veröffentlichten Aufsätze haben zugleich einen historischen Wert. Sie zeigen den Ausgangspunkt, den die esoterischen Unterweisungen Rudolf Steiners haben nehmen müssen; sie zeigen uns, wie er der bahnbrechende Führer geworden ist auch auf diesem Gebiet, auf welchem zum erstenmal durch ihn der Mensch der Freiheit übergeben werden durfte. Dazu mußte mit weltumspannendem Blick und größtem Verantwortlichkeitsgefühl eine Grundlage vorgebaut, eine Geisthaltung geschaffen werden, die es dem Menschen möglich macht, in sich selbst den festen moralischen Halt findend, in dieser Freiheit nicht den Versuchungen, der Verirrung anheimzufallen. Um eine solche Tat am entscheidenden Wendepunkte historischer Umwälzungen, inmitten feindlicher Gegenkräfte, nur auf sich selbst gestellt, zu vollbringen, war das ungeheure Ethos notwendig, welches das ganze Lebenswerk Rudolf Steiners durchpulst und nichts anderes mehr für ihn in Betracht kommen ließ als das Wohl der Menschheit, die Rettung des Abendlandes vor dem drohenden Untergange. Dazu mußte von den Fundamenten aus gebaut werden in einer Art, die den Forderungen der Zeit entsprach. Die Synthese alles Wissens war dazu notwendig.

Greift man zu diesen Aufsätzen, die am Anfang jenes erstaunlichen Lebenswerkes geschrieben worden sind, das am 30. März 1925 seinen Abschluß fand und, bald nach der Jahrhundertwende, einen schicksalsgewollten Einschlag erhalten hatte durch die Verbindung mit den aus orientalischen Quellen gespeisten theosophischen Kreisen, so wird man zur Frage gedrängt: Wie ist es zu verstehen, daß Rudolf Steiner, der uns auch auf dem Gebiete der Esoterik zur Freiheit führte, auch hier uns auf uns selber stellte und nur unsermeigenen höhern Ich uns geloben ließ, was sonst der Schüler dem Lehrer als Gelöbnis zu leisten hatte, daß Rudolf Steiner hier in diesen Aufsätzen noch von der Notwendigkeit des strengen Anschlusses an den Führer spricht, den Schüler gleichsam in die Abhängigkeit des Lehrers stellt?

In Wahrheit handelt es sich bei Rudolf Steiner nur um die Beschreibung eines Vertrauensverhältnisses. Das Autoritative hat er von Anfang an vermieden und von sich gewiesen. In alten Zeiten übernahmen die initiierenden Priester die volle Verantwortung für den in die Mysterien des geistigen Seins Einzuweihenden und wirkten mit ihrem Willen in ihn hinein. So war er zugleich geschützt und geführt und konnte den Gefahren entrinnen, die ihn sonst überwältigt hätten. Sein Ich schwebte ja noch über seinen physischen Hüllen, sein Selbstbewußtsein war nicht erwacht. Dieses immer mehr zur Erweckung zu bringen, war der Weg der fortschreitenden Mysterienschulung. Und in der christlichen Einweihung sehen wir durch den Hinweis auf den Weltenlehrer die Abhängigkeit vom persönlichen Lehrer schon gemildert, wenn auch noch vorhanden. Sie verliert immer mehr ihren persönlichen Charakter in der rosenkreuzerischen Schulung und gestaltet sich um zum Vertrauensverhältnis. Der Lehrer steht dem Schüler bei, zeigt ihm den Weg, den jener sucht und allein nicht finden kann, stützt ihn moralisch, weist ihn auf die Gefahren hin, die seinem Charakter drohen — aus Eitelkeit, aus der Vorgaukelung trügerischer Bilder, die er unterscheiden lernen muß von wahrer geistiger Wirklichkeit. So ist der Lehrer ein Helfer, der sich in dem Augenblicke sogleich zurückziehen würde, wo das Vertrauen abhanden käme. An dem Schicksalswendepunkte, in dem wir stehen, mußte der für die Jetztzeit wirkende Lehrer hinweisen auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft menschlichen Geistesstrebens und, indem er mit der Erziehung des Einzelnen begann, sein Werk so ausbauen, daß es als Menschheitstat dastehen konnte: ein für die Nachwelt neuerrungenes Lebenselement. So schuf Rudolf Steiner eine Initiationswissenschaft, in der von nun an jeder ernste, sittlich strebende Mensch den Boden wird finden können, der ihn trägt, die Elemente wird greifen können, die ihm das Unterscheidungsvermögen schärfen, während sich ihm neue Welten eröffnen. Er braucht nicht unsicher zu sein, er hat genug, um sich durchzutasten, bis er in geistigen Landen den Führer findet. Ein solches war nicht vorhanden, bevor Rudolf Steiner sein Geisteswerk begann. Seine Tat ist — die «Wissenschaft» von der Initiation. Durch sie wird entsiegelt, was verborgen lag in den Mysterien der alten Tempel: neben dem Wissen des Werdens der Welten das Wissen vom kommenden Niederstieg des Christus; und was versiegelt ward in der Kirche: die erlösende Tat der Menschheitsbefreiung durch den Christus, die im Laufe der Zeit durch Ihn sich vollziehende Ich-Durchdringung des Einzelnen. Statt der persönlichen Führung wird es nun Aufgabe, durch die Kräfte des Zeitgeistes den Menschen den Weg finden zu lassen zum Menschheits-Ich, zum Christus. Das Bewußtsein des einzelnen Menschen wird reif gemacht zum Entgegennehmen der höheren Ichkraft, das Selbstbewußtsein wird emporgehoben zum Geistselbst.

Es ist die Arbeit der Zukunft. Aber nur auf dem Boden der Vergangenheit stehend, kann man, Künftiges vorbereitend, die Gegenwart befruchten. Sonst schafft man ins Leere. Metamorphose auch hier. Die Zukunft wird gestaltet, indem die auf dem Boden der Vergangenheit stehende Gegenwart umgeformt wird. Neues tritt hinzu, wie der neue Frühling dem Winter folgt. Sonnenkraft durchfeuert die Erde; Ersterbendes, in Wesenhaftes sich Umwandelndes wird zu neuem Leben entfacht, indem sich von oben die Gnade hinuntersenkt. Auch auf dem Gebiet der Esoterik entwickelt sich kontinuierliches historisches Geschehen durch das Gesetz der steigenden Entwickelung und der auf- und abflutenden Welle des vergehenden und aufblühenden Lebens bis zu dem scheinbar plötzlichen Augenblick, wo die Gnade überstrahlend hereinbricht, gleich dem Wunder der aufleuchtenden Blüte in der grünen Pflanzenweit. Doch ohne diese durch weise Mächte von Form zu Form durchgeführte Wandlung und stete Steigerung auf allen Gebieten der Lebensäußerung würden die neuen Werte, die Gaben des Geistes, die feurigen Zungen des Wortes, sich nicht zu uns herniedersenken. Ohne Kenntnis solchen Geschehens wären die Empfangenden nicht in der Lage, zu ermessen, was unter ihnen sich vollziehen will. Das neue Große könnte sich nicht auswirken, die Zukunft nicht gerettet werden.

Die nach geistigen Erkenntnissen ringenden Seelen, die an Rudolf Steiner herantraten, waren das Schicksalgewollte, von der Zeit ihm zugeführte Menschenmaterial, mit dem Rudolf Steiner zu arbeiten hatte, aus deren Bedürfnissen und Voraussetzungen heraus er das zu gestalten hatte, was auf Grund eines erkenntnismäßig fundamentierten Aufbaus zur Wissenschaft der Initiation werden konnte. Aus der Trägheit der Zeit dem Geiste gegenüber galt es, Menschen herauszureißen, die Brücke würden sein können für die Forderungen der Zukunft. Am schwersten war es, den Sinn zu wecken für die innere Freiheit und das Aufsich-selbst-gestellt-Sein in eigener Verantwortung. In peinlichster Berücksichtigung dieses Zieles hat Rudolf Steiner nichts anderes den Menschen sein wollen als Unterweiser und — wo man ihn darum bat, Berater, Erwecker von menschheitlichen Geistimpulsen. Er konnte Darsteller werden von geistigen Tatsachen, weil sein Denken und Schauen lebendurchtränkt war und sich von Glied zu Glied entfaltete mit der Kraft eines naturhaften Organismus. Sein Geisteswerk steht vor uns: die wiederhergestellte Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion.