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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Die Geheimwissenschaft im Umriss
GA 13

Vorrede zur 16. – 20. Auflage

Jetzt, nachdem fünfzehn Jahre seit dem ersten Erscheinen dieses Buches verflossen sind, darf ich wohl vor der Öffentlichkeit einiges sagen über die Seelenverfassung, aus der heraus es entstanden ist.

Ursprünglich war mein Plan, seinen wesentlichen Inhalt als letzte Kapitel meinem lange vorher erschienenen Buche «Theosophie» anzufügen. Das ging nicht. Dieser Inhalt rundete sich damals, als die «Theosophie» ausgeführt wurde, nicht in der Art in mir ab wie derjenige der «Theosophie». Ich hatte in meinen Imaginationen das geistige Wesen des Einzelmenschen vor meiner Seele stehen und konnte es darstellen, nicht aber standen damals schon die kosmischen Zusammenhänge, die in der «Ge- heimwissenschaft» darzulegen waren, ebenso vor mir. Sie waren im einzelnen da; nicht aber im Gesamtbild.

Deshalb entschloss ich mich, die «Theosophie» mit dem Inhalte erscheinen zu lassen, den ich als das Wesen des Lebens eines einzelnen Menschen erschaut hatte, und die «Geheimwissen- schaft» in der nächsten Zeit in aller Ruhe durchzuführen.

Der Inhalt dieses Buches musste nach meiner damaligen Seelenstimmung in Gedanken gegeben werden, die für die Darstellung des Geistigen geeignete weitere Fortbildungen der in der Naturwissenschaft angewendeten Gedanken sind. Man wird es den hier wieder abgedruckten «Vorbemerkungen zur ersten Auflage» anmerken, wie stark ich mich mit allem, was ich damals über Geisteserkenntnis schrieb, vor der Naturwissenschaft verantwortlich fühlte.

Aber man kann nicht in solchen Gedanken allein das zur Darstellung bringen, was sich dem geistigen Schauen als Geist-Welt offenbart. Denn diese Offenbarung geht in einen bloßen Gedankeninhalt nicht ein. Wer das Wesen solcher Offenbarung erlebend kennengelernt hat, der weiß, dass die Gedanken des gewöhnlichen Bewusstseins nur geeignet sind, das sinnlich Wahrgenommene, nicht aber das geistig Geschaute, auszudrücken.

Der Inhalt des geistig Geschauten lässt sich nur in Bildern (Imaginationen) wiedergeben, durch die Inspirationen sprechen, die von intuitiv erlebter geistiger Wesenheit herrühren. (Über das Wesen von Imagination, Inspiration und Intuition findet man das Notwendige in dieser «Geheimwissenschaft» selbst und in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».)

Aber der Darsteller der Imaginationen aus der Geist-Welt kann gegenwärtig nicht bloß diese Imaginationen hinstellen. Er stellte damit etwas dar, das als ein ganz anderer Bewusstseinsinhalt neben dem Erkenntnisinhalt unseres Zeitalters, ohne allen Zusammenhang mit diesem, stünde. Er muss das gegenwärtige Bewusstsein mit dem erfüllen, was ein anderes Bewusstsein, das in die Geist-Welt schaut, erkennen kann. Dann wird seine Darstellung diese Geist-Welt zum Inhalte haben; aber dieser Inhalt tritt in der Form von Gedanken auf, in die er hineinfließt. Dadurch wird er dem gewöhnlichen Bewusstsein, das im Sinne der Gegenwart denkt, aber noch nicht in die Geist-Welt hineinschaut, voll verständlich. Diese Verständlichkeit bleibt nur dann aus, wenn man sich selbst Hindernisse vor sie legt. Wenn man die Vorurteile, die die Zeit aus einer falsch aufgefassten Naturanschauung von «Grenzen des Erkennens» sich gebildet hat, zu den eigenen macht.

Im Geist-Erkennen ist alles in intimes Seelen-Erleben getaucht. Nicht nur das geistige Anschauen selbst, sondern auch das Verstehen, das das nicht-schauende gewöhnliche Bewusstsein den Ergebnissen des Schauenden entgegenbringt.

Von dieser Intimität hat keine Ahnung, wer in dilettantischer Art davon spricht, dass der, der zu verstehen glaubt, sich das Verständnis selbst suggeriert.

Aber es ist so, dass, was innerhalb des Begreifens der physischen Welt bloß in Begriffen als Wahrheit oder Irrtum sich auslebt, der geistigen Welt gegenüber Erlebnis wird.

Wer in sein Urteil nur leise empfindend die Behauptung einfließen lässt, das geistig Geschaute sei von dem gewöhnlichen, noch nicht schauenden Bewusstsein — wegen dessen Grenzen — nicht erfassbar, dem legt sich dieses empfindende Urteil wie eine verfinsternde Wolke vor das Erfassen; und er kann wirklich nicht verstehen.

Aber dem unbefangenen nicht-schauenden Bewusstsein ist das Geschaute voll verständlich, wenn es der Schauende bis in die Gedankenform hineinbringt. Es ist verständlich, wie dem Nicht-Maler das fertige Bild des Malers verständlich ist. Und zwar ist das Verständnis der Geist-Welt nicht das künstlerisch-gefühlsmäßige wie bei einem Kunstwerk, sondern ein durchaus gedankenmäßiges wie der Naturerkenntnis gegenüber.

Um aber ein solches Verständnis wirklich möglich zu machen, muss der Darsteller des geistig Geschauten seine Schauungen bis zu einem richtigen Hineingießen in Gedankenform bringen, ohne dass sie innerhalb dieser Form ihren imaginativen Charakter verlieren.

Das stand alles vor meiner Seele, als ich mein «Geheimwissenschaft» ausarbeitete.

1909 fühlte ich dann, dass ich mit diesen Voraussetzungen ein Buch zustandebringen könne, das: erstens den Inhalt meiner Geistesschau bis zu einem gewissen, aber zunächst genügenden Grade, in die Gedankenform gegossen, brachte; und das zweitens von jedem denkenden Menschen, der sich keine Hindernisse vor das Verständnis legt, verstanden werden kann.

Ich sage das heute, indem ich zugleich ausspreche, dass damals — 1909 — mir die Veröffentlichung des Buches als ein Wagnis erschien. Denn ich wusste ja, dass die geforderte Unbefangenheit gerade diejenigen nicht aufbringen können, die Naturwissenschaft beruflich treiben, und ebensowenig alle die zahlreichen Persönlichkeiten, die in ihrem Urteile von diesen abhängig sind.

Aber es stand gerade die Tatsache vor meiner Seele, dass in der Zeit, in der sich das Bewusstsein der Menschheit von der Geist-Welt am weitesten entfernt hatte, die Mitteilungen aus dieser Geist-Welt einer allerdringendsten Notwendigkeit entsprechen.

Ich zählte darauf, dass es auch Menschen gibt, die mehr oder weniger die Entfernung von aller Geistigkeit so schwer als Lebenshindernis empfinden, dass sie zu Mitteilungen aus der Geist-Welt mit innerer Sehnsucht greifen.

Und die folgenden Jahre haben das ja voll bestätigt. Die «Theosophie» und «Geheimwissenschaft» haben als Bücher, die im Leser guten Willen voraussetzen, auf eine schwierige Stilisierung einzugehen, weite Verbreitung gefunden.

Ich habe ganz bewusst angestrebt, nicht eine «populäre» Darstellung zu geben, sondern eine solche, die notwendig macht, mit rechter Gedankenanstrengung in den Inhalt hineinzukommen. Ich habe damit meinen Büchern einen solchen Charakter aufgeprägt, dass deren Lesen selbst schon der Anfang der Geistesschulung ist. Denn die ruhige, besonnene Gedankenanstrengung, die dieses Lesen notwendig macht, verstärkt die Seelenkräfte und macht sie dadurch fähig, der geistigen Welt nahe zu kommen.

Daß ich dem Buche den Titel Geheimwissenschaft» gegeben habe, hat sogleich Missverständnisse hervorgerufen. Von mancher Seite wurde gesagt, was «Wissenschaft» sein will, darf nicht «geheim» sein. Wie wenig bedacht war ein solcher Einwand. Als ob jemand, der einen Inhalt veröffentlicht, mit diesem «geheim» tun wolle. Das ganze Buch zeigt, dass nichts als «geheim» bezeichnet, sondern eben in eine solche Form gebracht werden sollte, dass es verständlich sei wie nur irgendeine «Wissenschaft». Oder will man, wenn man das Wort «Naturwissenschaft» gebraucht, nicht andeuten, dass es sich um Wissen von der «Natur» handelt? Geheimwissenschaft ist Wissenschaft von dem, was sich insoferne im «Geheimen» abspielt, als es nicht draußen in der Natur wahrgenommen wird, sondern da, wohin die Seele sich orientiert, wenn sie ihr Inneres nach dem Geiste richtet.

«Geheimwissenschaft» ist Gegensatz von «Naturwissenschaft».

Meinen Schauungen in der geistigen Welt hat man immer wieder entgegengehalten, sie seien veränderte Wiedergaben dessen, was im Laufe älterer Zeit an Vorstellungen der Menschen über die Geist-Welt hervorgetreten ist. Man sagte, ich hätte mancherlei gelesen, es ins Unterbewusste aufgenommen und dann in dem Glauben, es entspringe aus dem eigenen Schauen, zur Darstellung gebracht. Aus gnostischen Lehren, aus orientalischen Weisheitsdichtungen und so weiter soll ich meine Darstellungen gewonnen haben.

Man ist, indem man dieses behauptet hat, mit den Gedanken ganz an der Oberfläche geblieben.

Meine Erkenntnisse des Geistigen, dessen bin ich mir voll bewusst, sind Ergebnisse eigenen Schauens. Ich hatte jederzeit bei allen Einzelheiten und bei den großen Übersichten mich streng geprüft, ob ich jeden Schritt im schauenden Weiterschreiten so mache, dass vollbesonnenes Bewusstsein diese Schritte begleite. Wie der Mathematiker von Gedanke zu Gedanke schreitet, ohne dass Unbewusstes, Autosuggestion und so weiter eine Rolle spielen, so — sagte ich mir — muss geistiges Schauen von objektiver Imagination zu objektiver Imagination schreiten, ohne dass etwas anderes in der Seele lebt als der geistige Inhalt klar besonnenen Bewusstseins.

Dass man von einer Imagination weiß, sie ist nicht bloß subjektives Bild, sondern Bild-Wiedergabe objektiven Geist-Inhaltes, dazu bringt man es durch gesundes inneres Erleben. Man gelangt dazu auf geistig-seelische Art, wie man im Bereich der Sinnesanschauung bei gesunder Organisation Einbildungen von objektiven Wahrnehmungen richtig unterscheidet. So hatte ich die Ergebnisse meines Schauens vor mir. Sie waren zunächst «Anschauungen», die ohne Namen lebten.

Sollte ich sie mitteilen, so bedurfte es der Wortbezeichnungen. Ich suchte dann später nach solchen in älteren Darstellungen des Geistigen, um das noch Wortlose in Worten ausdrucken zu können. Ich gebrauchte diese Wortbezeichnungen frei, so dass wohl kaum eine derselben in meinem Gebrauche zusammenfällt mit dem, was sie dort war, wo ich sie fand.

Ich suchte aber nach solcher Möglichkeit, mich auszudrücken, stets erst, nachdem mir der Inhalt im eigenen Schauen aufgegangen war.

Vorher Gelesenes wusste ich beim eigenen forschenden Schauen durch die Bewusstseinsverfassung, die ich eben geschildert habe, auszuschalten.

Nun fand man in meinen Ausdrücken Anklänge an ältere Vorstellungen. Ohne auf den Inhalt einzugehen, hielt man sich an solche Ausdrücke. Sprach ich von «Lotosblumen» in dem Astralleib des Menschen, so war das ein Beweis, dass ich indische Lehren, in denen man den Ausdruck findet, wiedergäbe. ja, sprach ich von «Astralleib» selbst, so war dies das Ergebnis des Lesens mittelalterlicher Schriften. Gebrauchte ich die Ausdrücke: Angeloi, Archangeloi und so weiter, so erneuerte ich einfach die Vorstellungen christlicher Gnosis. Solches ganz an der Oberfläche sich bewegende Denken fand ich immer wieder mir entgegengehalten.

Auch auf diese Tatsache wollte ich gegenwärtig beim Wiedererscheinen der «Geheimwissenschaft» in neuer Auflage hinweisen. Das Buch enthält ja die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen. Es wird daher vorzüglich betroffen von den Missverständnissen, denen diese ausgesetzt ist.

Ich habe seit der Zeit, in der in meiner Seele die Imaginationen, die das Buch wiedergibt, in ein Gesamtbild zusammengeflossen sind, unausgesetzt das forschende Schauen in den Menschen, in das geschichtliche Werden der Menschheit, in den Kosmos und so weiter fortgebildet; ich bin im einzelnen zu immer neuen Ergebnissen gekommen. Aber, was ich in der «Geheimwissenschaft» vor fünfzehn Jahren als Umriss gegeben habe, ist für mich in nichts erschüttert worden. Alles, was ich seither sagen konnte, erscheint, wenn es an der rechten Stelle diesem Buche eingefügt wird, als eine weitere Ausführung der damaligen Skizze.

Goetheanum, 10. Januar 1925
Rudolf Steiner