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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Die Geheimwissenschaft im Umriss
GA 13

Die Erkenntnis der höheren Welten
(von der Einweihung oder Initiation)

Zwischen Geburt und Tod durchlebt der Mensch auf seiner ge- genwärtigen Entwicklungsstufe im gewöhnlichen Leben drei Seelenzustände: das Wachen, den Schlaf und zwischen beiden den Traumzustand. Auf den letzteren soll an späterer Stelle die- ser Schrift noch kurz hingedeutet werden. Hier mag das Leben zunächst in seinen beiden wechselnden Hauptzuständen, dem Wachen und dem Schlafen, betrachtet werden. — Zu Erkennt- nissen in höheren Welten gelangt der Mensch, wenn er sich, außer dem Schlafen und Wachen, noch einen dritten Seelenzu- stand erwirbt. Während des Wachens ist die Seele hingegeben den Sinneseindrücken und den Vorstellungen, welche von die- sen Sinneseindrücken angeregt werden. Während des Schlafes schweigen die Sinneseindrücke; aber die Seele verliert auch das Bewusstsein. Die Tageserlebnisse sinken in das Meer der Be- wusstlosigkeit hinunter. — Man denke sich nun: die Seele könnte während des Schlafes zu einer Bewusstheit kommen, trotzdem die Eindrücke der Sinne, wie sonst im tiefen Schlafe, ausgeschaltet blieben. Ja, es würde auch die Erinnerung an die Tageserlebnisse nicht vorhanden sein. Befände sich nun die See- le in einem Nichts? Könnte sie nun gar keine Erlebnisse haben? — Eine Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn ein Zu- stand wirklich hergestellt werden kann, welcher diesem gleich oder ähnlich ist. Wenn die Seele etwas erleben kann, auch dann, wenn keine Sinneswirkungen und keine Erinnerungen an solche in ihr vorhanden sind. Dann befände sich die Seele in bezug auf die gewöhnliche Außenwelt wie im Schlafe; und doch schliefe sie nicht, sondern wäre wie im Wachen einer wirkli- chen Welt gegenüber. — Nun kann ein solcher Bewusstseinszu- stand hergestellt werden, wenn der Mensch diejenigen Seelen- erlebnisse herbeiführt, welche ihm die Geisteswissenschaft möglich macht. Und alles, was diese über jene Welten mitteilt, welche über die sinnliche hinausliegen, ist durch einen solchen Bewusstseinszustand erforscht. — In den vorhergehenden Ausführungen sind einige Mitteilungen über höhere Welten ge- macht worden. In dem Folgenden soll nun auch — soweit dies in diesem Buche geschehen kann — von den Mitteln gespro- chen werden, durch welche der zu diesem Forschen notwendige Bewusstseinszustand geschaffen wird.

Nur nach einer Richtung hin gleicht dieser Bewusstseinszustand dem Schlafe, nämlich dadurch, dass durch ihn alle äußeren Sin- neswirkungen aufhören; auch alle Gedanken getilgt sind, wel- che durch diese Sinneswirkungen angeregt sind. Während aber im Schlafe die Seele keine Kraft hat, bewusst etwas zu erleben, soll sie diese Kraft durch diesen Bewusstseinszustand erhalten. Durch ihn wird in der Seele also die Fähigkeit eines Erlebens erweckt, welche im gewöhnlichen Dasein nur durch die Sin- neswirkungen angeregt wird. Die Erweckung der Seele zu ei- nem solchen höheren Bewusstseinszustand kann Einweihung (Initiation) genannt werden. Die Mittel der Einweihung führen den Menschen aus dem ge- wöhnlichen Zustande des Tagesbewusstseins in eine solche See- lentätigkeit hinein, durch welche er sich geistiger Beobach- tungswerkzeuge bedient. Diese Werkzeuge sind wie Keime vor- her in der Seele vorhanden. Diese Keime müssen entwickelt werden. — Nun kann der Fall eintreten, dass ein Mensch in einem bestimmten Zeitpunkte seiner Lebenslaufbahn ohne be- sondere Vorbereitung in seiner Seele die Entdeckung macht, es haben sich solche höhere Werkzeuge in ihm entwickelt. Es ist dann eine Art von unwillkürlicher Selbsterweckung eingetre- ten. Solch ein Mensch wird sich dadurch in seinem ganzen We- sen umgewandelt finden. Eine unbegrenzte Bereicherung seiner Seelenerlebnisse tritt ein. Und er wird finden, dass er durch kei- ne Erkenntnisse der Sinnenwelt eine solche Beseligung, solche befriedigende Gemütsverfassung und innere Wärme empfinden kann, wie durch dasjenige, was sich einer Erkenntnis erschließt, die nicht dem physischen Auge zugänglich ist. Kraft und Le- benssicherheit wird in seinen Willen aus einer geistigen Welt einströmen. — Solche Fälle von Selbsteinweihung gibt es. Sie sollten aber nicht zu dem Glauben verführen, dass es das einzig Richtige sei, eine solche Selbsteinweihung abzuwarten und nichts zu tun, um die Einweihung durch regelrechte Schulung herbeizuführen. Von der Selbsteinweihung braucht hier nicht gesprochen zu werden, da sie eben ohne Beobachtung irgend- welcher Regeln eintreten kann. Dargestellt aber soll werden, wie man durch Schulung die in der Seele keimhaft ruhenden Wahrnehmungsorgane entwickeln kann. Menschen, welche keinen besonderen Antrieb in sich verspüren, für ihre Entwick- lung selbst etwas zu tun, werden leicht sagen: das Menschenle- ben steht in der Leitung von geistigen Mächten, in deren Füh- rung soll man nicht eingreifen; man soll ruhig des Augenblickes harren, in dem jene Mächte es für richtig halten, der Seele eine andere Welt zu erschließen. Es wird wohl auch von solchen Menschen wie eine Art von Vermessenheit empfunden, oder als eine unberechtigte Begierde, in die Weisheit der geistigen Füh- rung einzugreifen. Persönlichkeiten, welche so denken, werden erst dann zu einer anderen Meinung geführt, wenn auf sie eine gewisse Vorstellung einen genügend starken Eindruck macht. Wenn sie sich sagen: Jene weise Führung hat mir gewisse Fä- higkeiten gegeben; sie hat mir diese nicht verliehen, auf dass ich sie unbenützt lasse, sondern damit ich sie gebrauche. Die Weis- heit der Führung besteht darin, dass sie in mich die Keime ge- legt hat zu einem höheren Bewusstseinszustande. Ich verstehe diese Führung nur, wenn ich es als Pflicht empfinde, dass alles dem Menschen offenbar werde, was durch seine Geisteskräfte offenbar werden kann. Wenn ein solcher Gedanke einen genü- gend starken Eindruck auf die Seele gemacht hat, dann werden die obigen Bedenken gegen eine Schulung in bezug auf einen höheren Bewusstseinszustand schwinden. Es kann aber allerdings noch ein anderes Bedenken geben, das sich gegen eine solche Schulung erhebt. Man kann sich sagen: «Die Entwicklung innerer Seelenfähigkeiten greift in das ver- borgenste Heiligtum des Menschen ein. Sie schließt in sich eine gewisse Umwandlung des ganzen menschlichen Wesens. Die Mittel zu solcher Umwandlung kann man sich naturgemäß nicht selber ersinnen. Denn wie man in eine höhere Welt kommt, kann doch nur derjenige wissen, welcher den Weg in diese als sein eigenes Erlebnis kennt. Wenn man sich an eine solche Persönlichkeit wendet, so gestattet man derselben einen Einfluss auf das verborgenste Heiligtum der Seele.» — Wer so denkt, dem könnte es selbst keine besondere Beruhigung ge- währen, wenn ihm die Mittel zur Herbeiführung eines höheren Bewusstseinszustandes in einem Buche dargeboten würden. Denn es kommt ja nicht darauf an, ob man etwas mündlich mit- geteilt erhält oder ob eine Persönlichkeit, welche die Kenntnis dieser Mittel hat, diese in einem Buche darstellt und ein anderer sie daraus erfährt. Es gibt nun solche Persönlichkeiten, welche die Kenntnis der Regeln für die Entwicklung der geistigen Wahrnehmungsorgane besitzen und welche die Ansicht vertreten, dass man diese Re- geln einem Buche nicht anvertrauen dürfe. Solche Personen betrachten zumeist auch die Mitteilung gewisser Wahrheiten, welche sich auf die geistige Welt beziehen, als unstatthaft. Doch muss diese Anschauung gegenüber dem gegenwärtigen Zeitalter der Menschheitsentwicklung in gewisser Beziehung als veraltet bezeichnet werden. Richtig ist, dass man mit der Mitteilung der entsprechenden Regeln nur bis zu einem gewissen Punkte ge- hen kann. Doch führt das Mitgeteilte so weit, dass derjenige, welcher dieses auf seine Seele anwendet, in der Erkenntnisent- wicklung dazu gelangt, dass er den weiteren Weg dann finden kann. Es führt dieser Weg dann in einer Art weiter, über welche man eine richtige Vorstellung auch nur durch das vorher Durchgemachte erhalten kann. Aus all diesen Tatsachen können sich Bedenken gegen den geistigen Erkenntnisweg ergeben. Diese Bedenken schwinden, wenn man das Wesen desjenigen Entwicklungsganges ins Auge fasst, welchen die unserem Zeital- ter angemessene Schulung vorzeichnet. Von diesem Wege soll hier gesprochen und auf andere Schulungen nur kurz hingewie- sen werden. Die hier zu besprechende Schulung gibt demjenigen, welcher den Willen zu seiner höheren Entwicklung hat, die Mittel an die Hand, die Umwandlung seiner Seele vorzunehmen. Ein be- denklicher Eingriff in das Wesen des Schülers wäre nur dann vorhanden, wenn der Lehrer diese Umwandlung durch Mittel vornähme, die sich dem Bewusstsein des Schülers entziehen. Solcher Mittel bedient sich aber keine richtige Anweisung der Geistesentwicklung in unserem Zeitalter. Diese macht den Schüler zu keinem blinden Werkzeuge. Sie gibt ihm die Verhaltungsmaßregeln; und der Schüler führt sie aus. Es wird dabei, wenn es darauf ankommt, nicht verschwie- gen, warum diese oder jene Verhaltungsmaßregel gegeben wird. Die Entgegennahme der Regeln und ihre Anwendung durch eine Persönlichkeit, welche geistige Entwicklung sucht, braucht nicht auf blinden Glauben hin zu geschehen. Ein solcher sollte auf diesem Gebiete ganz ausgeschlossen sein. Wer die Natur der Menschenseele betrachtet, soweit sie ohne Geistesschulung schon durch die gewöhnliche Selbstbeobachtung sich ergibt, der kann sich nach Entgegennahme der von der Geistesschulung empfohlenen Regeln fragen: wie können diese Regeln im See- lenleben wirken? Und diese Frage kann, vor aller Schulung, bei unbefangener Anwendung des gesunden Menschenverstandes, genügend beantwortet werden. Man kann über die Wirkungs- weise dieser Regeln sich richtige Vorstellungen machen, bevor man sich ihnen hingibt. Erleben kann man diese Wirkungswei- se allerdings erst während der Schulung. Allein auch da wird das Erleben stets von dem Verstehen dieses Erlebens begleitet sein, wenn man jeden zu machenden Schritt mit dem gesunden Urteile begleitet. Und gegenwärtig wird eine wahre Geisteswis- senschaft nur solche Regeln für die Schulung angeben, denen gegenüber solches gesunde Urteil sich geltend machen kann. Wer willens ist, sich nur einer solchen Schulung hinzugeben, und wer sich durch keine Voreingenommenheit zu einem blin- den Glauben treiben lässt, dem werden alle Bedenken schwin- den. Einwände gegen eine regelrechte Schulung zu einem höhe- ren Bewusstseinszustande werden ihn nicht stören. Selbst für eine solche Persönlichkeit, welche die innere Reife hat, die sie in kürzerer oder längerer Zeit zum Selbsterwachen der geistigen Wahmehmungsorgane führen kann, ist eine Schu- lung nicht überflüssig, sondern im Gegenteil, für sie ist sie ganz besonders geeignet. Denn es gibt nur wenige Fälle, in denen eine solche Persönlichkeit vor der Selbsteinweihung nicht die mannigfaltigsten krummen und vergeblichen Seitenwege durchzumachen hat. Die Schulung erspart ihr diese Seitenwege. Sie führt in der geraden Richtung vorwärts. Wenn eine solche Selbsteinweihung für diese Seele eintritt, so rührt dies davon her, dass die Seele sich in vorhergehenden Lebensläufen die ent- sprechende Reife erworben hat. Es kommt nun sehr leicht vor, dass gerade eine solche Seele ein gewisses dunkles Gefühl von ihrer Reife hat und sich aus diesem Gefühl heraus gegen eine Schulung ablehnend verhält. Ein solches Gefühl kann nämlich einen gewissen Hochmut erzeugen, welcher das Vertrauen zu echter Geistesschulung hindert. Es kann nun eine gewisse Stufe der Seelenentwicklung bis zu einem gewissen Lebensalter ver- borgen bleiben und erst dann hervortreten. Aber es kann die Schulung gerade das rechte Mittel sein, um sie zum Hervortre- ten zu bringen. Verschließt sich ein Mensch dann gegen die Schulung, dann kann es sein, dass seine Fähigkeit in dem betref- fenden Lebenslauf verborgen bleibt und erst wieder in einem der nächsten Lebensläufe hervortritt. In bezug auf die hier gemeinte Schulung für die übersinnliche Erkenntnis ist es wichtig, gewisse naheliegende Missverständ- nisse nicht aufkommen zu lassen. Das eine kann dadurch ent- stehen, dass man meint, die Schulung wolle den Menschen in bezug auf seine ganze Lebensführung zu einem andern Wesen machen. Allein es handelt sich nicht darum, dem Menschen allgemeine Lebensvorschriften zu geben, sondern ihm von See- lenverrichtungen zu sprechen, die, wenn er sie ausführt, ihm die Möglichkeit geben, das Übersinnliche zu beobachten. Auf denjenigen Teil seiner Lebensverrichtungen, der außerhalb der Beobachtung des Übersinnlichen liegt, haben diese Verrichtun- gen keinen unmittelbaren Einfluss. Der Mensch erwirbt sich hinzu zu diesen Lebensverrichtungen die Gabe der übersinnli- chen Beobachtung. Die Tätigkeit dieser Beobachtung ist von den gewöhnlichen Verrichtungen des Lebens so getrennt wie der Zustand des Wachens von dem des Schlafens. Das eine kann das andere nicht im geringsten stören. Wer zum Beispiel den gewöhnlichen Ablauf des Lebens durch Eindrücke des übersinn- lichen Schauens durchsetzen wollte, gleicht einem Ungesunden, dessen Schlaf von schädlichem Aufwachen fortwährend unter- brochen würde. Dem freien Willen des Geschulten muss es möglich sein, den Zustand des Beobachtens übersinnlicher Wirklichkeit herbeizuführen. Mittelbar hängt die Schulung mit Lebensvorschriften allerdings insofern zusammen, als ohne eine gewisse ethisch gestimmte Lebensführung ein Einblick in das Übersinnliche unmöglich oder schädlich ist. Und deshalb ist manches, das zur Anschauung des Übersinnlichen führt, zu- gleich Mittel zur Veredlung der Lebensführung. Auf der andern Seite erkennt man durch den Einblick in die übersinnliche Welt höhere moralische Impulse, die auch für die sinnlich-physische Welt gelten. Gewisse moralische Notwendigkeiten werden erst aus dieser Welt heraus erkannt. — Ein zweites Missverständnis wäre, wenn man glaubte, irgendeine zum übersinnlichen Er- kennen führende Seelenverrichtung habe etwas mit Verände- rung der physischen Organisation zu tun. Es haben solche Ver- richtungen vielmehr nicht das geringste zu tun mit irgend et- was, in das Physiologie oder ein anderer Zweig der Naturer- kenntnis hineinzureden hat. Sie sind so ganz von allem Physi- schen abliegende rein geistig-seelische Vorgänge wie das gesun- de Denken und Wahrnehmen selbst. Der Art nach geht in der Seele durch eine solche Verrichtung nichts anderes vor, als was vorgeht, wenn sie gesund vorstellt oder urteilt. So viel und so wenig mit dem Leibe das gesunde Denken zu tun hat, so viel und so wenig haben mit diesem die Vorgänge der echten Schu- lung zur übersinnlichen Erkenntnis zu tun. Alles, was sich an- ders zum Menschen verhält, ist nicht wahre Geistesschulung, sondern ein Zerrbild derselben. Im Sinne des hier Gesagten sind die folgenden Ausführungen zu nehmen. Nur weil übersinnli- che Erkenntnis etwas ist, was von der ganzen Seele des Men- schen ausgeht, wird es so aussehen, als ob zur Schulung Dinge verlangt würden, die aus dem Menschen etwas anderes machen. In Wahrheit handelt es sich um Angaben über Verrichtungen, die die Seele in die Möglichkeit versetzen, innerhalb ihres Le- bens solche Augenblicke herbeizuführen, in denen sie das Über- sinnliche beobachten kann. Die Erhebung zu einem übersinnlichen Bewusstseinszustande kann nur von dem gewöhnlichen wachen Tagesbewusstsein ausgehen. In diesem Bewusstsein lebt die Seele vor ihrer Erhe- bung. Es werden ihr durch die Schulung Mittel gegeben, welche sie aus diesem Bewusstsein herausführen. Die hier zunächst in Betracht kommende Schulung gibt unter den ersten Mitteln solche, welche sich noch als Verrichtungen des gewöhnlichen Tagesbewusstseins kennzeichnen lassen. Gerade die bedeut- samsten Mittel sind solche, die in stillen Verrichtungen der See- le bestehen. Es handelt sich darum, dass sich die Seele ganz be- stimmten Vorstellungen hingibt. Diese Vorstellungen sind sol- che, welche durch ihr Wesen eine weckende Kraft auf gewisse verborgene Fähigkeiten der menschlichen Seele ausüben. Sie unterscheiden sich von solchen Vorstellungen des wachen Ta- geslebens, welche die Aufgabe haben, ein äußeres Ding abzubil- den. Je wahrer sie dies tun, desto wahrer sind sie. Und es gehört zu ihrem Wesen, in diesem Sinne wahr zu sein. Eine solche Aufgabe haben die Vorstellungen nicht, welchen sich die Seele zum Ziele der Geistesschulung hingeben soll. Sie sind so gestal- tet, dass sie nicht ein Äußeres abbilden, sondern in sich selbst die Eigenheit haben, auf die Seele weckend zu wirken. Die bes- ten Vorstellungen hierzu sind sinnbildliche oder symbolische. Doch können auch andere Vorstellungen verwendet werden. Denn es kommt eben gar nicht darauf an, was die Vorstellungen enthalten, sondern lediglich darauf, dass die Seele alle ihre Kräf- te darauf richtet, nichts anderes im Bewusstsein zu haben als die betreffende Vorstellung. Während im gewöhnlichen Seelenle- ben dessen Kräfte auf vieles verteilt sind und die Vorstellungen rasch wechseln, kommt es bei der Geistesschulung auf die Kon- zentration des ganzen Seelenlebens auf eine Vorstellung an. Und diese Vorstellung muss durch freien Willen in den Mittel- punkt des Bewusstseins gerückt sein. Sinnbildliche Vorstellun- gen sind deshalb besser als solche, welche äußere Gegenstände oder Vorgänge abbilden, weil die letzteren den Anhaltspunkt in der Außenwelt haben und dadurch die Seele weniger sich auf sich allein zu stützen hat als bei sinnbildlichen, die aus der eige- nen Seelenenergie heraus gebildet werden. Nicht was vorgestellt wird, ist wesentlich, sondern darauf kommt es an, dass das Vor- gestellte durch die Art des Vorstellens das Seelische von jeder Anlehnung an ein Physisches loslöst. Man gelangt zu einem Erfassen dieser Versenkung in eine Vor- stellung, wenn man sich erst einmal den Begriff der Erinnerung vor die Seele ruft. Hat man das Auge zum Beispiel auf einen Baum gerichtet und wendet man sich dann von dem Baume ab, so dass man ihn nicht mehr sehen kann, so vermag man die Vorstellung des Baumes aus der Erinnerung in der Seele wieder zu erwecken. Diese Vorstellung des Baumes, die man hat, wenn derselbe nicht dem Auge gegenübersteht, ist eine Erinnerung an den Baum. Nun denke man sich, man behalte diese Erinnerung in der Seele; man lasse die Seele gleichsam auf der Erinnerungs- vorstellung ruhen; man bemühe sich, alle andern Vorstellungen dabei auszuschließen. Dann ist die Seele in die Erinnerungsvor- stellung des Baumes versenkt. Man hat es dann mit einer Ver- senkung der Seele in eine Vorstellung zu tun; doch ist diese Vorstellung das Abbild eines durch die Sinne wahrgenommenen Dinges. Wenn man aber dasselbe vornimmt mit einer durch freien Willen in das Bewusstsein versetzten Vorstellung, so wird man nach und nach die Wirkung erzielen können, auf welche es ankommt. Es soll nun ein Beispiel der inneren Versenkung mit einer sinn- bildlichen Vorstellung veranschaulicht werden. Zunächst muss eine solche Vorstellung erst in der Seele aufgebaut werden. Das kann in folgender Art geschehen: Man stelle sich eine Pflanze vor, wie sie im Boden wurzelt, wie sie Blatt nach Blatt treibt, wie sie sich zur Blüte entfaltet. Und nun denke man sich neben diese Pflanze einen Menschen hingestellt. Man mache den Ge- danken in seiner Seele lebendig, wie der Mensch Eigenschaften und Fähigkeiten hat, welche denen der Pflanze gegenüber voll- kommener genannt werden können. Man bedenke, wie er sich seinen Gefühlen und seinem Willen gemäß da und dorthin be- geben kann, während die Pflanze an den Boden gefesselt ist. Nun aber sage man sich auch: ja, gewiss ist der Mensch voll- kommener als die Pflanze; aber mir treten dafür auch an ihm Eigenschaften entgegen, welche ich an der Pflanze nicht wahr- nehme, und durch deren Nichtvorhandensein sie mir in gewis- ser Hinsicht vollkommener als der Mensch erscheinen kann. Der Mensch ist erfüllt von Begierden und Leidenschaften; die- sen folgt er bei seinem Verhalten. Ich kann bei ihm von Verir- rungen durch seine Triebe und Leidenschaften sprechen. Bei der Pflanze sehe ich, wie sie den reinen Gesetzen des Wachs- tums folgt von Blatt zu Blatt, wie sie die Blüte leidenschaftslos dem keuschen Sonnenstrahl öffnet. Ich kann mir sagen: der Mensch hat eine gewisse Vollkommenheit vor der Pflanze vo- raus; aber er hat diese Vollkommenheit dadurch erkauft, dass er zu den mir rein erscheinenden Kräften der Pflanze in seinem Wesen hat hinzutreten lassen Triebe, Begierden und Leiden- schaften. Ich stelle mir nun vor, dass der grüne Farbensaft durch die Pflanze fließt und dass dieser der Ausdruck ist für die reinen leidenschaftslosen Wachstumsgesetze. Und dann stelle ich mir vor, wie das rote Blut durch die Adern des Menschen fließt und wie dieses der Ausdruck ist für die Triebe, Begierden und Lei- denschaften. Das alles lasse ich als einen lebhaften Gedanken in meiner Seele erstehen. Dann stelle ich mir weiter vor, wie der Mensch entwicklungsfähig ist; wie er seine Triebe und Leiden- schaften durch seine höheren Seelenfähigkeiten läutern und reinigen kann. Ich denke mir, wie dadurch ein Niederes in die- sen Trieben und Leidenschaften vernichtet wird, und diese auf einer höheren Stufe wiedergeboren werden. Dann wird das Blut vorgestellt werden dürfen als der Ausdruck der gereinigten und geläuterten Triebe und Leidenschaften. Ich blicke nun zum Bei- spiel im Geiste auf die Rose und sage mir: in dem roten Rosen- blatt sehe ich die Farbe des grünen Pflanzensaftes umgewandelt in das Rot; und die rote Rose folgt wie das grüne Blatt den rei- nen, leidenschaftslosen Gesetzen des Wachstums. Das Rot der Rose möge mir nun werden das Sinnbild eines solchen Blutes, das der Ausdruck ist von geläuterten Trieben und Leidenschaf- ten, welche das Niedere abgestreift haben und in ihrer Reinheit gleichen den Kräften, welche in der roten Rose wirken. Ich ver- suche nun, solche Gedanken nicht nur in meinem Verstande zu verarbeiten, sondern in meiner Empfindung lebendig werden zu lassen. Ich kann eine beseligende Empfindung haben, wenn ich die Reinheit und Leidenschaftslosigkeit der wachsenden Pflanze mir vorstelle; ich kann das Gefühl in mir erzeugen, wie gewisse höhere Vollkommenheiten erkauft werden müssen durch die Erwerbung der Triebe und Begierden. Das kann die Beseligung, die ich vorher empfunden habe, in ein ernstes Gefühl verwan- deln; und dann kann ein Gefühl eines befreienden Glückes in mir sich regen, wenn ich mich hingebe dem Gedanken an das rote Blut, das Träger werden kann von innerlich reinen Erleb- nissen, wie der rote Saft der Rose. Es kommt darauf an, dass man nicht gefühllos sich den Gedanken gegenüberstelle, welche zum Aufbau einer sinnbildlichen Vorstellung dienen. Nachdem man sich in solchen Gedanken und Gefühlen ergangen hat, verwand- le man sich dieselben in folgende sinnbildliche Vorstellung. Man stelle sich ein schwarzes Kreuz vor. Dieses sei Sinnbild für das vernichtete Niedere der Triebe und Leidenschaften; und da, wo sich die Balken des Kreuzes schneiden, denke man sich sie- ben rote, strahlende Rosen im Kreise angeordnet. Diese Rosen seien das Sinnbild für ein Blut, das Ausdruck ist für geläuterte, gereinigte Leidenschaften und Triebe.7 Eine solche sinnbildliche 7 Es kommt nicht darauf an, inwiefern diese oder jene naturwissenschaftliche Vorstellung die obigen Gedanken berechtigt findet oder nicht. Denn es han- delt sich um die Entwicklung solcher Gedanken an Pflanze und Mensch, welche, ohne alle Theorie, durch eine einfache, unmittelbare Anschauung gewonnen werden können. Solche Gedanken haben ja doch auch ihre Be- deutung neben den in anderer Beziehung nicht minder bedeutsamen theore- Vorstellung soll es nun sein, die man sich in der Art vor die See- le ruft, wie es oben an einer Erinnerungsvorstellung veran- schaulicht ist. Eine solche Vorstellung hat eine seelenweckende Kraft, wenn man sich in innerlicher Versenkung ihr hingibt. Jede andere Vorstellung muss man versuchen während der Ver- senkung auszuschließen. Lediglich das charakterisierte Sinnbild soll im Geiste vor der Seele schweben, so lebhaft als dies mög- lich ist. — Es ist nicht bedeutungslos, dass dieses Sinnbild nicht einfach als eine weckende Vorstellung hier angeführt worden ist, sondern dass es erst durch gewisse Vorstellungen über Pflanze und Mensch aufgebaut worden ist. Denn es hängt die Wirkung eines solchen Sinnbildes davon ab, dass man es sich in der geschilderten Art zusammengestellt hat, bevor man es zur inneren Versenkung verwendet. Stellt man es sich vor, ohne einen solchen Aufbau erst in der eigenen Seele durchgemacht zu haben, so bleibt es kalt und viel unwirksamer, als wenn es durch die Vorbereitung seine seelenbeleuchtende Kraft erhalten hat. Während der Versenkung soll man jedoch sich alle die vor- bereitenden Gedanken nicht in die Seele rufen, sondern ledig- lich das Bild lebhaft vor sich im Geiste schweben haben und dabei jene Empfindung mitschwingen lassen, die sich als Ergeb- nis durch die vorbereitenden Gedanken eingestellt hat. So wird das Sinnbild zum Zeichen neben dem Empfindungserlebnis. Und in dem Verweilen der Seele in diesem Erlebnis liegt das Wirksame. Je länger man verweilen kann, ohne dass eine stö- rende andere Vorstellung sich einmischt, desto wirksamer ist der ganze Vorgang. Jedoch ist es gut, wenn man sich außer der Zeit, welche man der eigentlichen Versenkung widmet, öfters durch Gedanken und Gefühle der oben geschilderten Art den Aufbau des Bildes wiederholt, damit die Empfindung nicht ver- tischen Vorstellungen über die Dinge der Außenwelt. Und hier sind die Ge- danken nicht dazu da, um einen Tatbestand wissenschaftlich darzustellen, sondern um ein Sinnbild aufzubauen, das sich als seelisch wirksam erweist, gleichgültig, welche Einwände dieser oder jener Persönlichkeit einfallen bei dem Aufbau dieses Sinnbildes. blasse. Je mehr Geduld man zu einer solchen Erneuerung hat, desto bedeutsamer ist das Bild für die Seele. (In den Auseinan- dersetzungen meines Buches: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» sind noch andere Beispiele von Mitteln zur inneren Versenkung angegeben. Besonders wirksam sind die daselbst charakterisierten Meditationen über das Werden und Vergehen einer Pflanze, über die in einem Pflanzen-Samenkorn schlummernden Werdekräfte, über die Formen von Kristallen usw. Hier in diesem Buche sollte an einem Beispiele das Wesen der Meditation gezeigt werden.) Ein solches Sinnbild, wie es hier geschildert ist, bildet kein äu- ßeres Ding oder Wesen, das durch die Natur hervorgebracht wird, ab. Aber eben gerade dadurch hat es seine weckende Kraft für gewisse rein seelische Fähigkeiten. Es könnte allerdings je- mand einen Einwand erheben. Er könnte sagen: Gewiss, das «Ganze», als Sinnbild, ist nicht durch die Natur vorhanden; aber alle Einzelheiten sind doch aus dieser Natur entlehnt: die schwarze Farbe, die Rosen und so weiter. Das alles werde doch durch die Sinne wahrgenommen. Wer durch solchen Einwand gestört wird, der sollte bedenken, dass nicht die Abbildungen der Sinneswahrnehmungen dasjenige sind, was zur Weckung der höheren Seelenfähigkeiten führt, sondern dass diese Wir- kung lediglich durch die Art der Zusammenfügung dieser Ein- zelheiten hervorgerufen wird. Und diese Zusammenfügung bil- det nicht etwas ab, was in der Sinneswelt vorhanden ist. An einem Sinnbild — als Beispiel — sollte der Vorgang der wirksamen Versenkung der Seele veranschaulicht werden. In der Geistesschulung können die mannigfaltigsten Bilder dieser Art verwendet und diese in der verschiedensten Art aufgebaut werden. Es können auch gewisse Sätze, Formeln, einzelne Wor- te gegeben werden, in welche man sich zu versenken hat. In jedem Falle werden diese Mittel der inneren Versenkung das Ziel haben, die Seele loszureißen von der Sinneswahrnehmung und sie zu einer solchen Tätigkeit anzuregen, bei welcher der Eindruck auf die physischen Sinne bedeutungslos ist und die Entfaltung innerer schlummernder Seelenfähigkeiten das We- sentliche wird. Es kann sich auch um Versenkungen bloß in Gefühle, Empfindungen usw. handeln. Solches erweist sich be- sonders wirksam. Man nehme einmal das Gefühl der Freude. Im normalen Lebensverlaufe mag die Seele Freude erleben, wenn eine äußere Anregung zur Freude vorhanden ist. Wenn eine gesund empfindende Seele wahrnimmt, wie ein Mensch eine Handlung vollbringt, welche diesem seine Herzensgüte eingibt, so wird diese Seele Wohlgefallen, Freude an einer solchen Handlung haben. Aber diese Seele kann nun nachdenken über eine Handlung dieser Art. Sie kann sich sagen: Eine Handlung, welche aus Herzensgüte vollbracht wird, ist eine solche, bei welcher der Vollbringer nicht seinem eigenen Interesse folgt, sondern dem Interesse seines Mitmenschen. Und eine solche Handlung kann eine sittlich gute genannt werden. Nun aber kann die betrachtende Seele sich ganz frei machen von der Vor- stellung des einzelnen Falles in der Außenwelt, welcher ihr die Freude oder das Wohlgefallen gemacht hat, und sie kann sich die umfassende Idee der Herzensgüte bilden. Sie kann sich etwa denken, wie Herzensgüte dadurch entstehe, dass die eine Seele das Interesse der andern gleichsam aufsauge und zu dem eige- nen mache. Und die Seele kann nun die Freude empfinden über diese sittliche Idee der Herzensgüte. Das ist die Freude nicht an diesem oder jenem Vorgange der Sinneswelt, sondern die Freu- de an einer Idee als solcher. Versucht man solche Freude durch längere Zeit in der Seele lebendig sein zu lassen, so ist dies Ver- senkung in ein Gefühl, in eine Empfindung. Nicht die Idee ist dann das Wirksame zur Weckung der inneren Seelenfähigkei- ten, sondern das durch längere Zeit andauernde Walten des nicht durch einen bloßen einzelnen äußeren Eindruck angereg- ten Gefühls innerhalb der Seele. — Da die übersinnliche Er- kenntnis tiefer einzudringen vermag in das Wesen der Dinge als das gewöhnliche Vorstellen, so können aus deren Erfahrungen heraus Empfindungen angegeben werden, welche noch in viel höherem Grade auf die Entfaltung der Seelenfähigkeiten wir- ken, wenn sie zur inneren Versenkung verwendet werden. So notwendig dies letztere für höhere Grade der Schulung ist, so soll man doch dessen eingedenk sein, dass energische Versen- kung in solche Gefühle und Empfindungen, wie zum Beispiel das an der Betrachtung der Herzensgüte charakterisierte, schon sehr weit führen kann. — Da die Wesenheiten der Menschen verschieden sind, so sind für die einzelnen Menschen auch ver- schiedene Mittel der Schulung die wirksamen. — Was die Zeit- länge der Versenkung betrifft, so ist zu bedenken, dass die Wir- kung um so stärker ist, je gelassener und besonnener diese Ver- senkung werden kann. Aber eine jegliche Übertreibung in die- ser Richtung soll vermieden werden. Es kann ein gewisser inne- rer Takt, der sich durch die Übungen selbst ergibt, den Schüler lehren, an was er in dieser Beziehung sich zu halten hat. Man wird solche Übungen innerer Versenkung in der Regel lange durchzuführen haben, bevor man deren Ergebnis selber wahrnehmen kann. Was zur Geistesschulung unbedingt gehört, ist: Geduld und Ausdauer. Wer diese beiden nicht in sich wach- ruft und nicht so in aller Ruhe fortdauernd seine Übungen macht, dass Geduld und Ausdauer dabei stets die Grundstim- mung seiner Seele ausmachen, der kann nicht viel erreichen. Es ist aus der vorangehenden Darstellung wohl ersichtlich, dass die innere Versenkung (Meditation) ein Mittel ist zur Erlangung der Erkenntnis höherer Welten, aber auch dass nicht jeder be- liebige Vorstellungsinhalt dazu führt, sondern nur ein solcher, welcher in der geschilderten Art ein gerichtet ist. Der Weg, auf den hier hingewiesen ist, führt zunächst zu dem, was man die imaginative Erkenntnis nennen kann. Sie ist die erste höhere Erkenntnisstufe. Das Erkennen, welches auf der sinnlichen Wahrnehmung und auf der Verarbeitung der sinnli- chen Wahrnehmungen durch den an die Sinne gebundenen Verstand beruht, kann — im Sinne der Geisteswissenschaft — das «gegenständliche Erkennen» genannt werden. Über dieses hinaus liegen die höheren Erkenntnisstufen, deren erste eben das imaginative Erkennen ist. Der Ausdruck «imaginativ» könn- te bei jemand Bedenken hervorrufen, der sich unter «Imaginati- on» nur eine «eingebildete» Vorstellung denkt, welcher nichts Wirkliches entspricht. In der Geisteswissenschaft soll aber die «imaginative» Erkenntnis als eine solche aufgefasst werden, wel- che durch einen übersinnlichen Bewusstseinszustand der Seele zustande kommt. Was in diesem Bewusstseinszustande wahrge- nommen wird, sind geistige Tatsachen und Wesenheiten, zu denen die Sinne keinen Zugang haben. Weil dieser Zustand in der Seele erweckt wird durch die Versenkung in Sinnbilder oder «Imaginationen», so kann auch die Welt dieses höheren Be- wusstseinszustandes die «imaginative» und die auf sie bezügliche Erkenntnis die «imaginative» genannt werden. «Imaginativ» be- deutet also etwas, was in einem andern Sinne «wirklich» ist als die Tatsachen und Wesenheiten der physischen Sinneswahr- nehmung. Auf den Inhalt der Vorstellungen, welche das imagi- native Erleben erfüllen, kommt nichts an; dagegen alles auf die Seelenfähigkeit, die an diesem Erleben herangebildet wird. Ein sehr naheliegender Einwurf gegen die Verwendung der cha- rakterisierten sinnbildlichen Vorstellungen ist, dass ihre Bildung einem träumerischen Denken und einer willkürlichen Einbil- dungskraft entspringen und dass sie daher nur von zweifelhaf- tem Erfolge sein könne. Denjenigen Sinnbildern gegenüber, welche der regelrechten Geistesschulung zugrunde liegen, ist ein damit gekennzeichnetes Bedenken unberechtigt. Denn die Sinnbilder werden so gewählt, dass von ihrer Beziehung auf eine äußere sinnliche Wirklichkeit ganz abgesehen werden kann und ihr Wert lediglich in der Kraft gesucht werden kann, mit welcher sie auf die Seele dann wirken, wenn diese alle Aufmerksamkeit von der äußeren Welt abzieht, wenn sie alle Eindrücke der Sinne unterdrückt und auch alle Gedanken aus- schaltet, die sie, auf äußere Anregung hin, hegen kann. Am an- schaulichsten wird der Vorgang der Meditation durch Vergleich derselben mit dem Schlafzustande. Sie ist diesem nach der einen Seite hin ähnlich, nach der anderen völlig entgegengesetzt. Sie ist ein Schlaf, der gegenüber dem Tagesbewusstsein ein höheres Erwachtsein darstellt. Es kommt darauf an, dass durch die Kon- zentration auf die entsprechende Vorstellung oder das Bild die Seele genötigt ist, viel stärkere Kräfte aus ihren eigenen Tiefen hervorzuholen, als sie im gewöhnlichen Leben oder dem ge- wöhnlichen Erkennen anwendet. Ihre innere Regsamkeit wird dadurch erhöht. Sie löst sich los von der Leiblichkeit, wie sie sich im Schlafe loslöst; aber sie geht nicht wie in diesem in die Bewusstlosigkeit über, sondern sie erlebt eine Weit, die sie vor- her nicht erlebt hat. Ihr Zustand ist, obwohl er nach der Seite der Losgelöstheit vom Leibe mit dem Schlafe verglichen werden kann, doch so, dass er sich zu dem gewöhnlichen Tagesbewusst- sein als ein solcher eines erhöhten Wachseins kennzeichnen lässt. Dadurch erlebt sich die Seele in ihrer wahren inneren, selbständigen Wesenheit, während sie sich im gewöhnlichen Tagwachen durch die in demselben vorhandene schwächere Entfaltung ihrer Kräfte nur mit Hilfe des Leibes zum Bewusst- sein bringt, sich also nicht selbst erlebt, sondern nur in dem Bil- de gewahr wird, das — wie eine Art Spiegelbild — der Leib (ei- gentlich dessen Vorgänge) vor ihr entwirft. Diejenigen Sinnbilder, welche in der oben geschilderten Art aufgebaut werden, beziehen sich naturgemäß noch nicht auf etwas Wirkliches in der geistigen Weit. Sie dienen dazu, um die menschliche Seele loszureißen von der Sinneswahrnehmung und von dem Gehirninstrument, an welches zunächst der Ver- stand gebunden ist. Diese Losreißung kann nicht früher gesche- hen, als bis der Mensch fühlt: jetzt stelle ich etwas vor durch Kräfte, bei denen mir meine Sinne und das Gehirn nicht als Werkzeuge dienen. Das erste, was der Mensch auf diesem Wege erlebt, ist ein solches Freiwerden von den physischen Organen. Er kann sich dann sagen: mein Bewusstsein erlöscht nicht, wenn ich die Sinneswahrnehmungen und das gewöhnliche Ver- standesdenken unberücksichtigt lasse; ich kann mich aus diesem herausheben und empfinde mich dann als ein Wesen neben dem, was ich vorher war. Das ist das erste rein geistige Erlebnis: die Beobachtung einer seelisch-geistigen Ich-Wesenheit. Diese hat sich als ein neues Selbst aus demjenigen Selbst herausgeho- ben, das nur an die physischen Sinne und den physischen Ver- stand gebunden ist. Hätte man ohne die Versenkung sich losge- macht von der Sinnes- und Verstandeswelt, so wäre man in das «Nichts» der Bewusstlosigkeit versunken. Man hat die seelisch- geistige Wesenheit selbstverständlich auch vor der Versenkung schon gehabt. Sie hatte aber noch keine Werkzeuge zur Be- obachtung der geistigen Welt. Sie war etwa so wie ein physi- scher Leib, der kein Auge zum Sehen oder kein Ohr zum Hören hat. Die Kraft, welche in der Versenkung aufgewendet worden ist, hat erst die seelisch-geistigen Organe aus der vorher unor- ganisierten seelisch-geistigen Wesenheit herausgeschaffen. Das, was man sich so anerschaffen hat, nimmt man auch zuerst wahr. Das erste Erlebnis ist daher in gewissem Sinne Selbstwahrneh- mung. Es gehört zum Wesen der Geistesschulung, dass die Seele durch die an sich geübte Selbsterziehung an diesem Punkte ih- rer Entwicklung ein volles Bewusstsein davon hat, dass sie zu- nächst sich selbst wahrnimmt in den Bilderwelten (Imaginatio- nen), die infolge der geschilderten Übungen auftreten. Diese Bilder treten zwar als lebend in einer neuen Welt auf; die Seele muss aber erkennen, dass sie doch nichts anderes zunächst sind als die Widerspiegelung ihres eigenen durch die Übungen ver- stärkten Wesens. Und sie muss dieses nicht nur im richtigen Urteile erkennen, sondern auch zu einer solchen Ausbildung des Willens gekommen sein, dass sie jederzeit die Bilder wieder aus dem Bewusstsein entfernen, auslöschen kann. Die Seele muss innerhalb dieser Bilder völlig frei und vollbesonnen wal- ten können. Das gehört zur richtigen Geistesschulung in diesem Punkte. Würde sie dieses nicht können, so wäre sie im Gebiete der geistigen Erlebnisse in demselben Falle, in dem eine Seele wäre in der physischen Welt, welche, wenn sie das Auge nach einem Gegenstande richtete, durch diesen gefesselt wäre, so dass sie von demselben nicht mehr wegschauen könnte. Eine Aus- nahme von dieser Möglichkeit des Auslöschens macht nur eine Gruppe von inneren Bilderlebnissen, die auf der erlangten Stufe der Geistesschulung nicht auszulöschen ist. Diese entspricht dem eigenen Seelen-Wesenskerne; und der Geistesschüler er- kennt in diesen Bildern dasjenige in ihm selber, welches sich als sein Grundwesen durch die wiederholten Erdenleben hindurchzieht. Auf diesem Punkte wird das Erfühlen von wie- derholten Erdenleben zu einem wirklichen Erlebnis. In bezug auf alles übrige muss die erwähnte Freiheit der Erlebnisse herr- schen. Und erst, nachdem man die Fähigkeit der Auslöschung erlangt hat, tritt man an die wirkliche geistige Außenwelt her- an. An Stelle des Ausgelöschten kommt ein anderes, in dem man die geistige Wirklichkeit erkennt. Man fühlt, wie man see- lisch aus einem Unbestimmten als ein Bestimmtes heraus- wächst. Von dieser Selbstwahrnehmung aus muss es dann wei- ter gehen zur Beobachtung einer seelisch-geistigen Außenwelt. Diese tritt ein, wenn man sein inneres Erleben in dem Sinne einrichtet, wie es hier weiter angedeutet werden wird. Zunächst ist die Seele des Geistesschülers schwach in bezug auf alles das, was in der seelisch-geistigen Welt wahrzunehmen ist. Er wird schon eine große innere Energie aufwenden müssen, um die Sinnbilder oder anderen Vorstellungen, welche er sich aus den Anregungen der Sinneswelt heraus aufgebaut hat, in innerer Versenkung festzuhalten. Will er aber außerdem noch zur wirklichen Beobachtung in einer höheren Welt gelangen, so muss er nicht nur an diesen Vorstellungen festhalten können. Er muss auch, nachdem er dies getan hat, in einem Zustande ver- weilen können, in dem keine Anregungen der sinnlichen Au- ßenwelt auf die Seele wirken, aber in dem auch die charakteri- sierten imaginierten Vorstellungen selbst aus dem Bewusstsein heraus getilgt werden. Nun kann erst das im Bewusstsein her- vortreten, was durch die Versenkung sich gebildet hat. Es han- delt sich darum, dass nunmehr innere Seelenkraft genug vor- handen ist, damit das also Gebildete wirklich geistig geschaut wird, damit es nicht der Aufmerksamkeit entgehe. Dies ist aber bei noch schwach entwickelter innerer Energie durchaus der Fall. Was sich als seelisch-geistiger Organismus da zunächst herausbildet und was man in Selbstwahrnehmung erfassen soll, ist zart und flüchtig. Und die Störungen der sinnlichen Außen- welt und deren Erinnerungs-Nachwirkungen sind, auch wenn man sich noch so sehr bemüht sie abzuhalten, groß. Es kommen da ja nicht nur diejenigen Störungen in Betracht, welche man beachtet, sondern viel mehr sogar diejenigen, welche man im gewöhnlichen Leben gar nicht beachtet. — Es ist aber gerade durch das Wesen des Menschen ein Übergangszustand in dieser Beziehung möglich. Was die Seele zunächst wegen der Störun- gen der physischen Welt im Wachzustand nicht leisten kann, das vermag sie im Schlafzustand. Wer sich der inneren Versen- kung ergibt, der wird bei gehöriger Aufmerksamkeit an seinem Schlaf etwas gewahr werden. Er wird fühlen, dass er während des Schlafes «nicht ganz schläft», sondern dass seine Seele Zeiten hat, in denen sie schlafend doch in einer gewissen Art tätig ist. In solchen Zuständen halten die natürlichen Vorgänge die Ein- flüsse der Außenwelt ab, welche die Seele wachend noch nicht aus eigener Kraft abhalten kann. Wenn aber nun die Übungen der Versenkung schon gewirkt haben, so löst sich die Seele während des Schlafes aus der Bewusstlosigkeit heraus und fühlt die geistig-seelische Welt. In einer zweifachen Art kann das eintreten. Es kann dem Menschen während des Schlafens klar sein: ich bin nun in einer andern Welt, oder aber er kann in sich nach dem Erwachen die Erinnerung haben: ich war in einer andern Welt. Zu dem ersteren gehört allerdings eine größere innere Energie als zu dem zweiten. Daher wird das letztere bei dem Anfänger in der Geistesschulung das häufigere sein. Nach und nach kann das so weit gehen, dass dem Schüler nach dem Erwachen vorkommt: ich war die ganze Schlafenszeit hindurch in einer andern Welt, aus der ich aufgetaucht bin mit dem Er- wachen. Und seine Erinnerung an die Wesenheiten und Tatsa- chen dieser andern Welt wird eine immer bestimmtere werden. Es ist bei dem Geistesschüler dann in der einen oder der andern Form das eingetreten, was man die Kontinuität des Bewusstseins nennen kann. (Die Fortdauer des Bewusstseins während des Schlafens.) Damit ist aber durchaus nicht gemeint, dass etwa der Mensch immer während des Schlafes sein Bewusstsein hat. Es ist schon viel errungen in der Kontinuität des Bewusstseins, wenn der Mensch, der sonst schläft wie ein anderer, gewisse Zeiten hat während des Schlafens, in denen er auf eine geistig- seelische Welt wie bewusst hinschauen kann, oder wenn er im Wachen auf solche kurz dauernde Bewusstseinszustände wieder wie hinschauen kann. Nicht außer acht möge aber gelassen werden, dass das hier Geschilderte doch nur als ein Übergangs- zustand aufzufassen ist. Es ist gut, durch diesen Übergangszu- stand behufs Schulung hindurchzugehen; aber man soll durch- aus nicht glauben, dass eine abschließende Anschauung in be- zug auf die geistig-seelische Welt aus diesem Übergangszustande geschöpft werden soll. Die Seele ist in diesem Zustande unsicher und kann sich darinnen noch nicht auf dasjenige verlassen, was sie wahrnimmt. Aber sie sammelt durch solche Erlebnisse im- mer mehr Kraft, um dann auch während des Wachens dazu zu gelangen, die störenden Einflüsse der physischen Außen- und Innenwelt von sich abzuhalten und so zu geistig-seelischer Be- obachtung zu gelangen, wenn keine Eindrücke durch die Sinne kommen, wenn der an das physische Gehirn gebundene Ver- stand schweigt und wenn auch die Vorstellungen der Versen- kung aus dem Bewusstsein entfernt sind, durch welche man sich auf das geistige Schauen ja nur vorbereitet hat. — Was durch die Geisteswissenschaft in dieser oder jener Form veröffentlicht wird, sollte niemals aus einer andern geistig-seelischen Be- obachtung stammen als aus einer solchen, welche bei vollem Wachzustande gemacht worden ist. Zwei Seelenerlebnisse sind wichtig im Fortgange der Geistes- schulung. Das eine ist dasjenige, durch welches sich der Mensch sagen kann: wenn ich nunmehr auch alles außer acht lasse, was mir die physische Außenwelt an Eindrücken geben kann, so blicke ich in mein Inneres doch nicht wie auf ein Wesen, dem alle Tätigkeit erlöscht, sondern ich schaue auf ein Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist in einer Welt, von der ich nichts weiß, so lange ich mich nur von jenen sinnlichen und gewöhn- lichen Verstandeseindrücken anregen lasse. Die Seele hat in diesem Augenblicke die Empfindung, dass sie in sich selbst ein neues Wesen als ihren Seelen-Wesenskern in der oben be- schriebenen Weise geboren habe. Und dieses Wesen ist ein sol- ches von ganz anderen Eigenschaften, als diejenigen sind, wel- che vorher in der Seele waren. — Das andere Erlebnis besteht darin, dass man sein bisheriges Wesen nunmehr wie ein zweites neben sich haben kann. Dasjenige, worin man bisher sich einge- schlossen wusste, wird zu etwas, dem man sich in gewisser Be- ziehung gegenübergestellt findet. Man fühlt sich zeitweilig au- ßerhalb dessen, was man sonst als die eigene Wesenheit, als sein «Ich» angesprochen hat. Es ist so, wie wenn man nun in voller Besonnenheit in zwei «Ichen» lebte. Das eine ist dasjenige, wel- ches man bisher gekannt hat. Das andere steht wie eine neuge- borene Wesenheit über diesem. Und man fühlt, wie das erstere eine gewisse Selbständigkeit erlangt gegenüber dem zweiten; etwa so wie der Leib des Menschen eine gewisse Selbständigkeit hat gegenüber dem ersten Ich. — Dieses Erlebnis ist von großer Bedeutung. Denn durch dasselbe weiß der Mensch, was es heißt, in jener Welt leben, welche er durch die Schulung zu erreichen strebt. Das zweite — das neugeborene — Ich kann nun zum Wahr- nehmen in der geistigen Welt geführt werden. In ihm kann sich entwickeln, was für diese geistige Welt die Bedeutung hat, wel- che den Sinnesorganen für die sinnlich-physische Welt zu- kommt. Ist diese Entwicklung bis zu dem notwendigen Grade fortgeschritten, so wird der Mensch nicht nur sich selbst als ein neugeborenes Ich empfinden, sondern er wird nunmehr um sich herum geistige Tatsachen und geistige Wesenheiten wahr- nehmen, wie er durch die physischen Sinne die physische Welt wahrnimmt. Und dies ist ein drittes bedeutsames Erlebnis. Um völlig auf dieser Stufe der Geistesschulung zurechtzukommen, muss der Mensch damit rechnen, dass mit der Verstärkung der Seelenkräfte die Selbstliebe, der Selbstsinn in einem solchen Grade auftreten, den das gewöhnliche Seelenleben gar nicht kennt. Es wäre ein Missverständnis, wenn jemand glauben könnte, dass man auf diesem Punkte nur von der gewöhnlichen Selbstliebe zu sprechen hat. Diese verstärkt sich auf dieser Stufe der Entwicklung so, dass sie das Aussehen einer Naturkraft in- nerhalb der eigenen Seele annimmt, und es gehört eine starke Willensschulung dazu, um diesen starken Selbstsinn zu besie- gen. Dieser Selbstsinn wird durch die Geistesschulung nicht etwa erzeugt; er ist immer vorhanden; er gelangt durch das Geist-Erleben nur zum Bewusstsein. Die Willensschulung muss der andern Geistesschulung durchaus zur Seite gehen. Es ist ein starker Trieb da, sich in der Welt beseligt zu fühlen, welche man sich erst selbst herangeschaffen hat. Und man muss gewis- sermaßen das in der oben erwähnten Art auslöschen können, um das man sich erst mit aller Anstrengung bemüht hat. In der erreichten imaginativen Welt muss man sich auslöschen. Dage- gen aber kämpfen die stärksten Triebe des Selbstsinnes an. — Es kann leicht der Glaube entstehen, dass die Übungen der Geistes- schulung etwas Äußerliches seien, das von der moralischen Entwicklung der Seele absieht. Demgegenüber muss gesagt wer- den, dass die moralische Kraft, die zu der gekennzeichneten Be- siegung des Selbstsinnes notwendig ist, nicht erlangt werden kann, ohne dass die moralische Verfassung der Seele auf eine entsprechende Stufe gebracht wird. Fortschritt in der Geistes- schulung ist nicht denkbar, ohne dass zugleich ein moralischer Fortschritt sich notwendig ergibt. Ohne moralische Kraft ist die erwähnte Besiegung des Selbstsinnes nicht möglich. Alles Reden darüber, dass die wahre Geistesschulung nicht zugleich eine moralische Schulung sei, ist doch unsachgemäß. Nur demjeni- gen, welcher ein solches Erlebnis nicht kennt, kann sich der Einwand ergeben: wie kann man wissen, dass man es dann, wenn man glaubt, geistige Wahrnehmungen zu haben, mit Wirklichkeiten und nicht mit bloßen Einbildungen (Visionen, Halluzinationen usw.) zu tun habe? — Die Sache ist ebenso, dass derjenige, welcher in regelrechter Schulung die charakterisierte Stufe erreicht hat, seine eigene Vorstellung von einer geistigen Wirklichkeit ebenso unterscheiden kann, wie ein Mensch mit gesundem Verstande unterscheiden kann die Vorstellung eines heißen Eisenstückes von dem wirklichen Vorhandensein eines solchen, das er mit der Hand berührt. Den Unterschied gibt eben das gesunde Erleben und nichts anderes. Und auch in der geistigen Welt gibt den Prüfstein das Leben selbst. Wie man weiß, dass in der Sinnenwelt ein vorgestelltes Eisenstück, wenn es noch so heiß gedacht wird, nicht die Finger verbrennt, so weiß der geschulte Geistesschüler, ob er nur in seiner Einbil- dung eine geistige Tatsache erlebt oder ob auf seine erweckten geistigen Wahmehmungsorgane wirkliche Tatsachen oder We- senheiten einen Eindruck machen. Die Maßregeln, welche man während der Geistesschulung zu beobachten hat, damit man in dieser Beziehung nicht Täuschungen zum Opfer fällt, werden in der folgenden Darstellung noch besprochen werden. Es ist nun von der größten Bedeutung, dass der Geistesschüler eine ganz bestimmte Seelenverfassung erlangt hat, wenn das Bewusstsein von einem neugeborenen Ich bei ihm eintritt. Denn es ist der Mensch durch sein Ich der Führer seiner Emp- findungen, Gefühle, Vorstellungen, seiner Triebe, Begehrungen und Leidenschaften. Wahrnehmungen und Vorstellungen kön- nen in der Seele sich nicht selbst überlassen sein. Sie müssen durch die denkende Besonnenheit geregelt werden. Und es ist das Ich, welches diese Denkgesetze handhabt und welches durch sie Ordnung in das Vorstellungs- und Gedankenleben bringt. Ähnlich ist es mit den Begehrungen, den Trieben, den Neigungen, den Leidenschaften. Die ethischen Grundsätze wer- den zu Führern dieser Seelenkräfte. Und durch das sittliche Ur- teil wird das Ich der Führer der Seele auf diesem Gebiete. Wenn nun der Mensch aus seinem gewöhnlichen Ich ein höheres her- auszieht, so wird das erstere in einer gewissen Beziehung selb- ständig. Es wird diesem so viel an lebendiger Kraft weggenom- men, als dem höheren Ich zugewendet wird. Man setze aber einmal den Fall, der Mensch habe in sich noch nicht eine gewis- se Fähigkeit und Festigung in den Denkgesetzen und in der Ur- teilskraft ausgebildet und er wollte auf solcher Stufe sein höhe- res Ich gebären. Er wird nur so viel seinem gewöhnlichen Ich an Denkfähigkeit zurücklassen können, als er vorher ausgebildet hat. Ist das Maß des geordneten Denkens zu gering, dann wird in dem selbständig gewordenen gewöhnlichen Ich ein ungeord- netes, verworrenes, phantastisches Denken und Urteilen auftre- ten. Und weil bei einer solchen Persönlichkeit das neugeborene Ich auch nur schwach sein kann, wird für das übersinnliche Schauen das verworrene niedere Ich die Oberherrschaft erlan- gen und der Mensch das Gleichgewicht seiner Urteilskraft für die Beobachtung des Übersinnlichen nicht zeigen. Hätte er ge- nügend Fähigkeit des logischen Denkens ausgebildet, so könnte er sein gewöhnliches Ich ruhig seiner Selbständigkeit überlas- sen. — Und auf dem ethischen Gebiete ist es ebenso. Wenn der Mensch nicht Festigkeit im moralischen Urteil erlangt hat, wenn er nicht genügend Herr geworden ist über Neigungen, Triebe und Leidenschaften, dann wird er sein gewöhnliches Ich verselbständigen in einem Zustand, in dem die genannten See- lenkräfte wirken. Es kann der Fall eintreten, dass der Mensch in dem Feststellen der erlebten übersinnlichen Erkenntnisse nicht einen gleich hohen Wahrheitssinn walten lässt wie in dem, was er sich durch die physische Außenwelt zum Bewusstsein bringt. Er könnte bei so gelockertem Wahrheitssinn alles mögliche für geistige Wirklichkeit halten, was nur seine Phantasterei ist. In diesen Wahrheitssinn hinein müssen Festigkeit des ethischen Urteiles, Sicherheit des Charakters, Gründlichkeit des Gewisses wirken, die in dem zurückgelassenen Ich ausgebildet sind, bevor das höhere Ich zum Zwecke der übersinnlichen Erkenntnis tätig wird. — Es darf dies durchaus nicht zu einem Abschreckungs- mittel gegenüber der Schulung werden; es muss aber ganz ernst genommen werden. Wer den starken Willen hat, alles zu tun, was das erste Ich zur inneren Sicherheit in der Ausübung seiner Verrichtungen bringt, der braucht vor der zur übersinnlichen Erkenntnis be- wirkten Loslösung eines zweiten Ich durch die geistige Schu- lung durchaus nicht zurückzuschrecken. Nur muss er sich vor- behalten, dass Selbsttäuschung dann eine große Macht über den Menschen hat, wenn es sich darum handelt, dass dieser sich für etwas «reif» befinden soll. In derjenigen Geistesschulung, wel- che hier beschrieben ist, erlangt der Mensch eine solche Ausbil- dung seines Gedankenlebens, dass er in Gefahren, zu irren, wie sie oft vermutet werden, nicht kommen kann. Diese Gedanken- ausbildung bewirkt, dass alle inneren Erlebnisse, welche not- wendig sind, auftreten, dass sie aber so sich abspielen, wie sie von der Seele durchgemacht werden müssen, ohne von schädli- chen Phantasieverirrungen begleitet zu sein. Ohne entspre- chende Gedankenausbildung können die Erlebnisse eine starke Unsicherheit in der Seele hervorrufen. Die hier betonte Art be- wirkt, dass die Erlebnisse so auftreten, dass man sie vollkommen kennenlernt, wie man die Wahrnehmungen der physischen Welt bei gesunder Seelenverfassung kennenlernt. Man wird durch die Ausbildung des Denklebens mehr ein Beobachter des- sen, was man an sich erlebt, während man ohne das Denkleben unbesonnen in dem Erlebnis drinnen steht. Von einer sachgemäßen Schulung werden gewisse Eigenschaf- ten genannt, welche sich durch Übung derjenige erwerben soll, welcher den Weg in die höheren Welten finden will. Es sind dies vor allem: Herrschaft der Seele über ihre Gedankenfüh- rung, über ihren Willen und ihre Gefühle. Die Art, wie diese Herrschaft durch Übung herbeigeführt werden soll, hat ein zweifaches Ziel. Einerseits soll der Seele dadurch Festigkeit, Si- cherheit und Gleichgewicht so weit eingeprägt werden, dass sie sich diese Eigenschaften bewahrt, auch wenn ein zweites Ich aus ihr geboren wird. Andrerseits soll diesem zweiten Ich Stärke und innerer Halt mit auf den Weg gegeben werden. Was dem Denken des Menschen für die Geistesschulung vor allem notwendig ist, das ist Sachlichkeit. In der physisch- sinnlichen Welt ist das Leben der große Lehrmeister für das menschliche Ich zur Sachlichkeit. Wollte die Seele in beliebiger Weise die Gedanken hin und her schweifen lassen: sie müsste alsbald sich von dem Leben korrigieren lassen, wenn sie mit ihm nicht in Konflikt kommen wollte. Die Seele muss entsprechend dem Verlauf der Tatsachen des Lebens denken. Wenn nun der Mensch die Aufmerksamkeit von der physisch-sinnlichen Welt ablenkt, so fehlt ihm die Zwangskorrektur der letzteren. Ist dann sein Denken nicht imstande, sein eigener Korrektor zu sein, so muss es ins Irrlichtelierende kommen. Deshalb muss das Denken des Geistesschülers sich so üben, dass es sich selber Richtung und Ziel geben kann. Innere Festigkeit und die Fähig- keit, streng bei einem Gegenstande zu bleiben, das ist, was das Denken in sich selbst heranziehen muss. Deshalb sollen ent- sprechende «Denkübungen» nicht an fernliegenden und kom- plizierten Gegenständen vorgenommen werden, sondern an einfachen und naheliegenden. Wer sich überwindet, durch Mo- nate hindurch täglich wenigstens fünf Minuten seine Gedanken an einen alltäglichen Gegenstand (zum Beispiel eine Stecknadel, einen Bleistift usw.) zu wenden und während dieser Zeit alle Gedanken auszuschließen, welche nicht mit diesem Gegenstan- de zusammenhängen, der hat nach dieser Richtung hin viel ge- tan. (Man kann täglich einen neuen Gegenstand bedenken oder mehrere Tage einen festhalten.) Auch derjenige, welcher sich als «Denker» durch wissenschaftliche Schulung fühlt, sollte es nicht verschmähen, sich in solcher Art für die Geistesschulung «reif» zu machen. Denn wenn man eine Zeitlang die Gedanken heftet an etwas, was einem ganz bekannt ist, so kann man sicher sein, dass man sachgemäß denkt. Wer sich frägt: Welche Be- standteile setzen einen Bleistift zusammen? Wie werden die Materialien zu dem Bleistift vorgearbeitet? Wie werden sie nachher zusammengefügt? Wann wurden die Bleistifte erfun- den? und so weiter, und so weiter: ein solcher passt seine Vor- stellungen sicher mehr der Wirklichkeit an als derjenige, der darüber nachdenkt, wie die Abstammung des Menschen ist oder was das Leben ist. Man lernt durch einfache Denkübungen für ein sachgemäßes Vorstellen gegenüber der Welt der Saturn-, Sonnen- und Mondenentwicklung mehr als durch komplizierte und gelehrte Ideen. Denn zunächst handelt es sich gar nicht darum, über dieses oder jenes zu denken, sondern sachgemäß durch innere Kraft zu denken. Hat man sich die Sachgemäßheit anerzogen an einem leicht überschaubaren sinnlich-physischen Vorgang, dann gewöhnt sich das Denken daran, auch sachge- mäß sein zu wollen, wenn es sich nicht durch die physisch- sinnliche Welt und ihre Gesetze beherrscht fühlt. Und man ge- wöhnt es sich ab, unsachgemäß die Gedanken schwärmen zu lassen. Wie Herrscher in der Gedankenwelt, so soll ein solcher die See- le auch im Gebiete des Willens werden. In der physisch- sinnlichen Welt ist es auch hier das Leben, das als Beherrscher auftritt. Es macht diese oder jene Bedürfnisse für den Menschen geltend; und der Wille fühlt sich angeregt, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Für die höhere Schulung muss sich der Mensch da- ran gewöhnen, seinen eigenen Befehlen streng zu gehorchen. Wer sich an solches gewöhnt, dem wird es immer weniger und weniger beifallen, Wesenloses zu begehren. Das Unbefriedigen- de, Haltlose im Willensleben rührt aber von dem Begehren sol- cher Dinge her, von deren Verwirklichung man sich keinen deutlichen Begriff macht. Solche Unbefriedigend kann das gan- ze Gemütsleben in Unordnung bringen, wenn ein höheres Ich aus der Seele hervorgehen will. Eine gute Übung ist es, durch Monate hindurch sich zu einer bestimmten Tageszeit den Befehl zu geben: Heute «um diese bestimmte Zeit» wirst du «dieses» ausführen. Man gelangt dann allmählich dazu, sich die Zeit der Ausführung und die Art des auszuführenden Dinges so zu be- fehlen, dass die Ausführung ganz genau möglich ist. So erhebt man sich über das verderbliche: «ich möchte dies; ich will je- nes», wobei man gar nicht an die Ausführbarkeit denkt. Eine große Persönlichkeit lässt eine Seherin sagen: «Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt». (Goethe, Faust II.) Und diese Persön- lichkeit (Goethe) selbst sagt: «In der Idee leben heißt, das Un- mögliche behandeln, als wenn es möglich wäre». (Goethe, Sprü- che in Prosa.) Solche Aussprüche dürfen aber nicht als Einwän- de gegen das hier Dargestellte gebraucht werden. Denn die For- derung, die Goethe und seine Seherin (Manko) stellen, kann nur derjenige erfüllen, welcher sich an dem Begehren dessen, was möglich ist, erst herangebildet hat, um dann durch sein starkes Wollen eben das «Unmögliche» so behandeln zu können, dass es sich durch sein Wollen in ein Mögliches verwandelt. In bezug auf die Gefühlswelt soll es die Seele für die Geistes- schulung zu einer gewissen Gelassenheit bringen. Dazu ist nö- tig, dass diese Seele Beherrscherin werde über den Ausdruck von Lust und Leid, Freude und Schmerz. Gerade gegenüber der Erwerbung dieser Eigenschaft kann sich manches Vorurteil er- geben. Man könnte meinen, man werde stumpf und teilnahms- los gegenüber seiner Mitwelt, wenn man über das «Erfreuliche sich nicht erfreuen, über das Schmerzhafte nicht Schmerz emp- finden soll». Doch darum handelt es sich nicht. Ein Erfreuliches soll die Seele erfreuen, ein Trauriges soll sie schmerzen. Sie soll nur dazu gelangen, den Ausdruck von Freude und Schmerz, von Lust und Unlust zu beherrschen. Strebt man dieses an, so wird man alsbald bemerken, dass man nicht stumpfer, sondern im Gegenteil empfänglicher wird für alles Erfreuliche und Schmerzhafte der Umgebung, als man früher war. Es erfordert allerdings ein genaues Achtgeben auf sich selbst durch längere Zeit, wenn man sich die Eigenschaft aneignen will, um die es sich hier handelt. Man muss darauf sehen, dass man Lust und Leid voll miterleben kann, ohne sich dabei so zu verlieren, dass man dem, was man empfindet, einen unwillkürlichen Ausdruck gibt. Nicht den berechtigten Schmerz soll man unterdrücken, sondern das unwillkürliche Weinen; nicht den Abscheu vor einer schlechten Handlung, sondern das blinde Wüten des Zorns; nicht das Achten auf eine Gefahr, sondern das fruchtlose «sich fürchten» und so weiter. — Nur durch eine solche Übung gelangt der Geistesschüler dazu, jene Ruhe in seinem Gemüt zu haben, welche notwendig ist, damit nicht beim Geborenwerden und namentlich bei der Betätigung des höheren Ich die Seele wie eine Art Doppelgänger neben diesem höheren Ich ein zwei- tes ungesundes Leben führt. Gerade diesen Dingen gegenüber sollte man sich keiner Selbsttäuschung hingeben. Es kann man- chem scheinen, dass er einen gewissen Gleichmut im gewöhnli- chen Leben schon habe und dass er deshalb diese Übung nicht nötig habe. Gerade ein solcher hat sie zweifach nötig. Man kann nämlich ganz gut gelassen sein, wenn man den Dingen des ge- wöhnlichen Lebens gegenübersteht; und dann beim Aufsteigen in eine höhere Welt kann sich um so mehr die Gleichgewichts- losigkeit, die nur zurückgedrängt war, geltend machen. Es muss durchaus erkannt werden, dass zur Geistesschulung es weniger darauf ankommt, was man vorher zu haben scheint, als viel- mehr darauf, dass man ganz gesetzmäßig übt, was man braucht. So widerspruchsvoll dieser Satz auch aussieht: er ist richtig. Hat einem auch das Leben dies oder jenes anerzogen: zur Geistes- schulung dienen die Eigenschaften, welche man sich selbst an- erzogen hat. Hat einem das Leben Erregtheit beigebracht, so sollte man sich die Erregtheit aberziehen; hat einem aber das Leben Gleichmut beigebracht, so sollte man sich durch Selbster- ziehung so aufrütteln, dass der Ausdruck der Seele dem empfan- genen Eindruck entspricht. Wer über nichts lachen kann, be- herrscht sein Leben ebensowenig wie derjenige, welcher, ohne sich zu beherrschen, fortwährend zum Lachen gereizt wird. Für das Denken und Fühlen ist ein weiteres Bildungsmittel die Erwerbung der Eigenschaft, welche man Positivität nennen kann. Es gibt eine schöne Legende, die besagt von dem Christus Jesus, dass er mit einigen andern Personen an einem toten Hund vorübergeht. Die andern wenden sich ab von dem hässlichen Anblick. Der Christus Jesus spricht bewundernd von den schö- nen Zähnen des Tieres. Man kann sich darin üben, gegenüber der Welt eine solche Seelenverfassung zu erhalten, wie sie im Sinne dieser Legende ist. Das Irrtümliche, Schlechte, Hässliche soll die Seele nicht abhalten, das Wahre, Gute und Schöne über- all zu finden, wo es vorhanden ist. Nicht verwechseln soll man diese Positivität mit Kritiklosigkeit, mit dem willkürlichen Ver- schließen der Augen gegenüber dem Schlechten, Falschen und Minderwertigen. Wer die «schönen Zähne» eines toten Tieres bewundert, der sieht auch den verwesenden Leichnam. Aber dieser Leichnam hält ihn nicht davon ab, die schönen Zähne zu sehen. Man kann das Schlechte nicht gut, den Irrtum nicht wahr finden; aber man kann es dahin bringen, dass man durch das Schlechte nicht abgehalten werde, das Gute, durch den Irr- tum nicht, das Wahre zu sehen. Das Denken in Verbindung mit dem Willen erfährt eine gewisse Reifung, wenn man versucht, sich niemals durch etwas, was man erlebt oder erfahren hat, die unbefangene Empfänglichkeit für neue Erlebnisse rauben zu lassen. Für den Geistesschüler soll der Gedanke seine Bedeutung ganz verlieren: «Das habe ich noch nie gehört, das glaube ich nicht.» Er soll während einer gewissen Zeit geradezu überall darauf ausgehen, sich bei jeder Gelegenheit von einem jeglichen Dinge und Wesen Neues sagen zu lassen. Von jedem Luftzug, von jedem Baumblatt, von jegli- chem Lallen eines Kindes kann man lernen, wenn man bereit ist, einen Gesichtspunkt in Anwendung zu bringen, den man bisher nicht in Anwendung gebracht hat. Es wird allerdings leicht möglich sein, in bezug auf eine solche Fähigkeit zu weit zu gehen. Man soll ja nicht etwa in einem gewissen Lebensalter die Erfahrungen, die man über die Dinge gemacht hat, außer acht lassen. Man soll, was man in der Gegenwart erlebt, nach den Erfahrungen der Vergangenheit beurteilen. Das kommt auf die eine Waagschale; auf die andere aber muss für den Geistes- schüler die Geneigtheit kommen, immer Neues zu erfahren. Und vor allem der Glaube an die Möglichkeit, dass neue Erleb- nisse den alten widersprechen können. Damit sind fünf Eigenschaften der Seele genannt, welche sich in regelrechter Schulung der Geistesschüler anzueignen hat: die Herrschaft über die Gedankenführung, die Herrschaft über die Willensimpulse, die Gelassenheit gegenüber Lust und Leid, die Positivität im Beurteilen der Welt, die Unbefangenheit in der Auffassung des Lebens. Wer gewisse Zeiten aufeinanderfolgend dazu verwendet hat, um sich in der Erwerbung dieser Eigen- schaften zu üben, der wird dann noch nötig haben, in der Seele diese Eigenschaften zum harmonischen Zusammenstimmen zu bringen. Er wird sie gewissermaßen je zwei und zwei, drei und eine und so weiter gleichzeitig üben müssen, um Harmonie zu bewirken. Die charakterisierten Übungen sind durch die Methoden der Geistesschulung angegeben, weil sie bei gründlicher Ausfüh- rung in dem Geistesschüler nicht nur das bewirken, was oben als unmittelbares Ergebnis genannt worden ist, sondern mittel- bar noch vieles andere im Gefolge haben, was auf dem Wege zu den geistigen Welten gebraucht wird. Wer diese Übungen in genügendem Maße macht, wird während derselben auf manche Mängel und Fehler seines Seelenlebens stoßen; und er wird die gerade ihm notwendigen Mittel finden zur Kräftigung und Si- cherung seines intellektuellen, gefühlsmäßigen und Charakter- lebens. Er wird gewiss noch manche andere Übungen nötig ha- ben, je nach seinen Fähigkeiten, seinem Temperament und Cha- rakter; solche ergeben sich aber, wenn die genannten ausgiebig durchgemacht werden. Ja, man wird bemerken, dass die darge- stellten Übungen mittelbar auch dasjenige nach und nach ge- ben, was zunächst nicht in ihnen zu liegen scheint. Wenn zum Beispiel jemand zu wenig Selbstvertrauen hat, so wird er nach entsprechender Zeit bemerken können, dass sich durch die Übungen das notwendige Selbstvertrauen einstellt. Und so ist es in bezug auf andere Seeleneigenschaften. (Besondere, mehr ins einzelne gehende Übungen findet man in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?») — Bedeu- tungsvoll ist, dass der Geistesschüler. die angegebenen Fähigkei- ten in immer höheren Graden zu steigern vermag. Die Beherr- schung der Gedanken und Empfindungen muss er so weit brin- gen, dass die Seele die Macht erhält, Zeiten vollkommener inne- rer Ruhe herzustellen, in denen der Mensch seinem Geiste und seinem Herzen alles fernhält, was das alltägliche, äußere Leben an Glück und Leid, an Befriedigungen und Kümmernissen, ja an Aufgaben und Forderungen bringt. Eingelassen werden soll in solchen Zeiten nur dasjenige in die Seele, was diese selbst im Zustande der Versenkung einlassen will. Leicht kann sich dem- gegenüber ein Vorurteil geltend machen. Es könnte die Mei- nung entstehen, man werde dem Leben und seinen Aufgaben entfremdet, wenn man sich mit Herz und Geist für gewisse Zei- ten des Tages aus demselben zurückzieht. Das ist aber in Wirk- lichkeit durchaus nicht der Fall. Wer sich in der geschilderten Art Perioden der inneren Stille und des Friedens hingibt, dem wachsen aus denselben für die Aufgaben auch des äußeren Le- bens so viele und so starke Kräfte zu, dass er die Lebenspflichten dadurch nicht nur nicht schlechter, sondern ganz gewiss besser erfüllt. — Von großem Werte ist es, wenn der Mensch in sol- chen Perioden ganz loskommt von den Gedanken an seine per- sönlichen Angelegenheiten, wenn er sich zu erheben vermag zu dem, was nicht nur ihn, sondern was den Menschen im allge- meinen überhaupt angeht. Ist er imstande, seine Seele zu erfül- len mit den Mitteilungen aus der höheren geistigen Welt, ver- mögen diese sein Interesse in einem so hohen Grade zu fesseln, wie eine persönliche Sorge oder Angelegenheit, dann wird seine Seele davon besondere Früchte haben. — Wer in dieser Weise regelnd in sein Seelenleben einzugreifen sich bemüht, der wird auch zu der Möglichkeit einer Selbstbeobachtung kommen, welche die eigenen Angelegenheiten mit der Ruhe ansieht, als wenn sie fremde wären. Die eigenen Erlebnisse, die eigenen Freuden und Leiden wie die eines andern ansehen können, ist eine gute Vorbereitung für die Geistesschulung. Man bringt es allmählich zu dem in dieser Beziehung notwendigen Grad, wenn man sich täglich nach vollbrachtem Tagewerk die Bilder der täglichen Erlebnisse vor dem Geiste vorbeiziehen lässt. Man soll sich innerhalb seiner Erlebnisse selbst im Bilde erblicken; also sich in seinem Tagesleben wie von außen betrachten. Man gelangt zu einer gewissen Praxis in solcher Selbstbeobachtung, wenn man mit der Vorstellung einzelner kleiner Teile dieses Tageslebens den Anfang macht. Man wird dann immer ge- schickter und gewandter in solcher Rückschau, so dass man sie nach längerer Übung in einer kurzen Spanne Zeit vollständig wird gestalten können. Dieses Rückwärts-Anschauen der Erleb- nisse hat für die Geistesschulung deshalb seinen besonderen Wert, weil es die Seele dazu bringt, sich im Vorstellen loszuma- chen von der sonst innegehaltenen Gewohnheit, nur dem Ver- lauf des sinnenfälligen Geschehens mit dem Denken zu folgen. Im Rückwärts-Denken stellt man richtig vor, aber nicht gehal- ten durch den sinnenfälligen Verlauf. Das braucht man zum Einleben in die übersinnliche Welt. Daran erkraftet sich das Vorstellen in gesunder Art. Daher ist es auch gut, außer seinem Tagesleben anderes rückwärts vorzustellen, zum Beispiel den Verlauf eines Dramas, einer Erzählung, einer Tonfolge usw. — Das Ideal für den Geistesschüler wird immer mehr werden, sich den an ihn herantretenden Lebensereignissen gegenüber so zu verhalten, dass er sie mit innerer Sicherheit und Seelenruhe an sich herankommen lässt und sie nicht nach seiner Seelenverfas- sung beurteilt, sondern nach ihrer inneren Bedeutung und ih- rem inneren Wert. Er wird gerade durch den Hinblick auf die- ses Ideal sich die seelische Grundlage schaffen, um sich den oben geschilderten Versenkungen in symbolische und andere Gedanken und Empfindungen hingeben zu können. Die hier geschilderten Bedingungen müssen erfüllt sein, weil sich das übersinnliche Erleben auf dem Boden auferbaut, auf dem man im gewöhnlichen Seelenleben steht, bevor man in die übersinnliche Welt eintritt. In zweifacher Art ist alles übersinn- liche Erleben abhängig von dem Seelen-Ausgangspunkt, auf dem man vor dem Eintritte steht. Wer nicht darauf bedacht ist, von vornherein eine gesunde Urteilskraft zur Grundlage seiner Geistesschulung zu machen, der wird in sich solche übersinnli- che Fähigkeiten entwickeln, welche ungenau und unrichtig die geistige Welt wahrnehmen. Es werden gewissermaßen seine geistigen Wahmehmungsorgane unrichtig sich entfalten. Und wie man mit einem fehlerhaften oder kranken Auge nicht rich- tig in der Sinnenwelt sehen kann, so kann man mit Geistorga- nen nicht richtig wahrnehmen, die nicht auf der Grundlage ei- ner gesunden Urteilsfähigkeit herangebildet sind. — Wer von einer unmoralischen Seelenverfassung den Ausgangspunkt nimmt, der erhebt sich so in die geistigen Welten, dass sein geis- tiges Schauen wie betäubt, wie umnebelt ist. Er ist gegenüber den übersinnlichen Welten, wie jemand gegenüber der sinnli- chen Welt ist, der in Betäubung beobachtet. Nur wird dieser zu keinen erheblichen Aussagen kommen, während der geistige Beobachter in seiner Betäubung doch immerhin wacher ist als ein Mensch im gewöhnlichen Bewusstsein. Seine Aussagen werden deshalb zu Irrtümern gegenüber der geistigen Welt. Die innere Gediegenheit der imaginativen Erkenntnisstufe wird dadurch erreicht, dass die dargestellten seelischen Versenkun- gen (Meditationen) unterstützt werden von dem, was man die Gewöhnung an «sinnlichkeitsfreies Denken» nennen kann. Wenn man sich einen Gedanken auf Grund der Beobachtung in der physisch-sinnlichen Welt macht, so ist dieser Gedanke nicht sinnlichkeitsfrei. Aber es ist nicht etwa so, dass der Mensch nur solche Gedanken bilden könne. Das menschliche Denken braucht nicht leer und inhaltlos zu werden, wenn es sich nicht von sinnlichen Beobachtungen erfüllen lässt. Der sicherste und nächstliegende Weg für den Geistesschüler, zu solchem sinn- lichkeitsfreien Denken zu kommen, kann der sein, die ihm von der Geisteswissenschaft mitgeteilten Tatsachen der höheren Welt zum Eigentum seines Denkens zu machen. Diese Tatsa- chen können von den physischen Sinnen nicht beobachtet wer- den. Dennoch wird der Mensch bemerken, dass er sie begreifen kann, wenn er nur Geduld und Ausdauer genug hat. Man kann ohne Schulung nicht in der höheren Welt forschen, man kann darin nicht selbst Beobachtungen machen; aber man kann ohne die höhere Schulung alles verstehen, was die Forscher aus der- selben mitteilen. Und wenn jemand sagt: Wie kann ich dasjeni- ge auf Treu und Glauben hinnehmen, was die Geistesforscher sagen, da ich es doch nicht selbst sehen kann? so ist dies völlig unbegründet. Denn es ist durchaus möglich, aus dem bloßen Nachdenken heraus die sichere Überzeugung zu erhalten: das Mitgeteilte ist wahr. Und wenn diese Überzeugung sich jemand durch Nachdenken nicht bilden kann, so rührt das nicht davon her, weil man unmöglich an etwas «glauben» könne, was man nicht sieht, sondern lediglich davon, dass man sein Nachdenken noch nicht vorurteilslos, umfassend, gründlich genug angewen- det hat. Um in diesem Punkte Klarheit zu haben, muss man be- denken, dass das menschliche Denken, wenn es sich energisch innerlich aufrafft, mehr begreifen kann, als es in der Regel wähnt. In dem Gedanken selbst liegt nämlich schon eine innere Wesenheit, welche im Zusammenhang steht mit der übersinnli- chen Welt. Die Seele ist sich gewöhnlich dieses Zusammenhan- ges nicht bewusst, weil sie gewöhnt ist, die Gedankenfähigkeit nur an der Sinnenwelt heranzuziehen. Sie hält deshalb für un- begreiflich, was ihr aus der übersinnlichen Welt mitgeteilt wird. Dies ist aber nicht nur begreiflich für ein durch Geistesschulung erzogenes Denken, sondern für jedes Denken, das sich seiner vollen Kraft bewusst ist und sich derselben bedienen will. — Dadurch, dass man sich unablässig zum Eigentum macht, was die Geistesforschung sagt, gewöhnt man sich an ein Denken, das nicht aus den sinnlichen Beobachtungen schöpft. Man lernt er- kennen, wie im Innern der Seele Gedanke sich an Gedanke webt, wie Gedanke den Gedanken sucht, auch wenn die Gedan- kenverbindungen nicht durch die Macht der Sinnenbeobach- tung bewirkt werden. Das Wesentliche dabei ist, dass man so gewahr wird, wie die Gedankenwelt inneres Leben hat, wie man sich, indem man wirklich denkt, im Bereiche einer über- sinnlichen lebendigen Welt schon befindet. Man sagt sich: Es ist etwas in mir, was einen Gedanken- Organismus ausbildet; aber ich bin doch eines mit diesem «Et- was». Man erlebt so in der Hingabe an sinnlichkeitsfreies Den- ken, dass etwas Wesenhaftes besteht, was einfließt in unser In- nenleben, wie die Eigenschaften der Sinnendinge durch unsere physischen Organe in uns einfließen, wenn wir sinnlich be- obachten. Da draußen im Raume — so sagt sich der Beobachter der Sinnenwelt — ist eine Rose; sie ist mir nicht fremd, denn sie kündigt sich mir durch ihre Farbe und ihren Geruch an. Man braucht nun nur genug vorurteilslos zu sein, um sich dann, wenn das sinnlichkeitsfreie Denken in einem arbeitet, ganz ent- sprechend zu sagen: es kündigt sich mir ein Wesenhaftes an, welches in mir Gedanken an Gedanken bindet, welches einen Gedankenorganismus formt. Es besteht aber ein Unterschied in den Empfindungen gegenüber dem, was der Beobachter der äu- ßeren Sinnenwelt im Auge hat, und dem, was sich wesenhaft in dem sinnlichkeitsfreien Denken ankündigt. Der erste Beobach- ter fühlt sich der Rose gegenüber außenstehend, derjenige, wel- cher dem sinnlichkeitsfreien Denken hingegeben ist, fühlt das in ihm sich ankündigende Wesenhafte wie in sich, er fühlt sich mit ihm eins. Wer mehr oder weniger bewusst nur das als we- senhaft gelten lassen will, was ihm wie ein äußerer Gegenstand gegenübertritt, der wird allerdings nicht das Gefühl erhalten können: was ein Wesenhaftes für sich ist, das kann sich mir auch dadurch ankündigen, dass ich mit ihm wie in eins verei- nigt bin. Um in dieser Beziehung richtig zu sehen, muss man folgendes innere Erlebnis haben können. Man muss unterschei- den lernen zwischen den Gedankenverbindungen, die man durch eigene Willkür schafft, und denjenigen, welche man in sich erlebt, wenn man solche eigene Willkür in sich schweigen lässt. In dem letzteren Falle kann man dann sagen: Ich bleibe in mir ganz still; ich führe keine Gedankenverbindungen herbei; ich gebe mich dem hin, was «in mir denkt». Dann ist es vollbe- rechtigt, zu sagen: in mir wirkt ein für sich Wesenhaftes, wie es berechtigt ist zu sagen: auf mich wirkt die Rose, wenn ich ein bestimmtes Rot sehe, einen bestimmten Geruch wahrnehme. — Es ist dabei kein Widerspruch, dass man doch den Inhalt seiner Gedanken aus den Mitteilungen der Geistesforscher schöpft. Die Gedanken sind dann zwar bereits da, wenn man sich ihnen hin- gibt; aber man kann sie nicht denken, wenn man sie nicht in jedem Falle in der Seele wieder neu nachschafft. Darauf eben kommt es an, dass der Geistesforscher solche Gedanken in sei- nem Zuhörer und Leser wachruft, welche diese aus sich erst holen müssen, während derjenige, welcher Sinnlich-Wirkliches beschreibt, auf etwas hindeutet, was von Zuhörer und Leser in der Sinnenwelt beobachtet werden kann. (Es ist der Weg, welcher durch die Mitteilungen der Geisteswis- senschaft in das sinnlichkeitsfreie Denken führt, ein durchaus sicherer. Es gibt aber noch einen andern, welcher sicherer und vor allem genauer, dafür aber auch für viele Menschen schwie- riger ist. Er ist in meinen Büchern «Erkenntnistheorie der Goe- theschen Weltanschauung» und «Philosophie der Freiheit» dar- gestellt. Diese Schriften geben wieder, was der menschliche Ge- danke sich erarbeiten kann, wenn das Denken sich nicht den Eindrücken der physisch-sinnlichen Außenwelt hingibt, son- dern nur sich selbst. Es arbeitet dann das reine Denken, nicht das bloß in Erinnerungen an Sinnliches sich ergehende in dem Menschen, wie eine in sich lebendige Wesenheit. Dabei ist in den genannten Schriften nichts aufgenommen aus den Mittei- lungen der Geisteswissenschaft selbst. Und doch ist gezeigt, dass das reine, nur in sich arbeitende Denken Aufschlüsse gewinnen kann über die Welt, das Leben und den Menschen. Es stehen diese Schriften auf einer sehr wichtigen Zwischenstufe zwi- schen dem Erkennen der Sinnenwelt und dem der geistigen Welt. Sie bieten dasjenige, was das Denken gewinnen kann, wenn es sich erhebt über die sinnliche Beobachtung, aber noch den Eingang vermeidet in die Geistesforschung. Wer diese Schriften auf seine ganze Seele wirken lässt, der steht schon in der geistigen Welt; nur dass sich diese ihm als Gedankenwelt gibt. Wer sich in der Lage fühlt, solch eine Zwischenstufe auf sich wirken zu lassen, der geht einen sicheren Weg; und er kann sich dadurch ein Gefühl gegenüber der höheren Welt erringen, das für alle Folgezeit ihm die schönsten Früchte tragen wird.) Das Ziel der Versenkung (Meditation) in die oben charakteri- sierten symbolischen Vorstellungen und Empfindungen ist, ge- nau gesprochen, die Heranbildung der höheren Wahrneh- mungsorgane innerhalb des astralischen Leibes des Menschen. Sie werden aus der Substanz dieses astralischen Leibes heraus zunächst geschaffen. Diese neuen Beobachtungsorgane vermit- teln eine neue Welt, und in dieser neuen Welt lernt sich der Mensch als ein neues Ich kennen. Von den Beobachtungsorga- nen der sinnlich-physischen Welt unterscheiden sich jene neu- en schon dadurch, dass sie tätige Organe sind. Während Auge und Ohr sich passiv verhalten und Licht und Ton auf sich wir- ken lassen, kann von den geistig-seelischen Wahrnehmungsor- ganen gesagt werden, dass sie in fortwährender Tätigkeit sind, während sie wahrnehmen, und dass sie ihre Gegenstände und Tatsachen gewissermaßen in vollem Bewusstsein ergreifen. Da- durch ergibt sich das Gefühl, dass geistig-seelisches Erkennen ein Vereinigen mit den entsprechenden Tatsachen ist, ein «in ihnen leben». — Man kann die einzelnen sich bildenden geistig- seelischen Organe vergleichsweise «Lotusblumen» nennen, ent- sprechend der Form, die sich das übersinnliche Bewusstsein von ihnen (imaginativ) machen muss. (Selbstverständlich muss man sich klar sein darüber, dass solche Bezeichnung mit der Sache nicht mehr zu tun hat als der Ausdruck «Flügel», wenn man von «Lungenflügeln» spricht.) Durch ganz bestimmte Arten von in- nerer Versenkung wird auf den Astralleib so gewirkt, dass sich das eine oder andere geistig-seelische Organ, die eine oder die andere «Lotusblume» bildet. Es sollte, nach allem in diesem Bu- che Ausgeführten, überflüssig sein, zu betonen, dass man sich diese «Beobachtungsorgane» nicht wie etwas vorzustellen hat, das in der Vorstellung seines sinnlichen Bildes ein Abdruck sei- ner Wirklichkeit ist. Diese «Organe» sind eben übersinnlich und bestehen in einer bestimmt geformten Seelenbetätigung; und sie bestehen nur insofern und so lange, als diese Seelenbetätigung geübt wird. Etwas, was sich als Sinnenfälliges anschauen lässt, ist mit diesen Organen so wenig am Menschen, als irgendein «Dunst» um ihn ist, wenn er denkt. Wer sich das Übersinnliche durchaus sinnlich vorstellen will, gerät eben in Missverständnis- se. Trotz des Überflüssigen dieser Bemerkung mag sie hier ste- hen, weil es immer wieder Bekenner des Übersinnlichen gibt, die in ihren Vorstellungen nur ein Sinnliches haben wollen; und weil es immer wieder Gegner der übersinnlichen Erkenntnis gibt, die glauben, der Geistesforscher spreche von «Lotusblu- men» wie von feineren sinnfälligen Gebilden. Jede regelrechte Meditation, die im Hinblick auf die imaginative Erkenntnis ge- macht wird, hat ihre Wirkung auf das eine oder das andere Or- gan. (In meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hö- heren Welten?» sind einzelne von den Methoden der Meditati- on und des Übens angegeben, welche auf das eine oder andere Organ wirken.) Eine regelrechte Schulung richtet die einzelnen Übungen des Geistesschülers so ein und lässt sie so aufeinander folgen, dass die Organe sich einzeln mit- oder nacheinander entsprechend ausbilden können. Zu dieser Ausbildung gehört bei dem Geistesschüler viel Geduld und Ausdauer. Wer nur ein solches Maß von Geduld hat, wie es die gewöhnlichen Lebens- verhältnisse dem Menschen in der Regel geben, der wird damit nicht ausreichen. Denn es dauert lange, oft sehr, sehr lange, bis die Organe so weit sind, dass der Geistesschüler sie zu Wahr- nehmungen in der höheren Welt gebrauchen kann. In diesem Momente tritt für ihn das ein, was man Erleuchtung nennt, im Gegensatz zur Vorbereitung oder Reinigung, die in den Übun- gen für die Ausbildung der Organe besteht. (Von «Reinigung» wird gesprochen, weil durch die entsprechenden Übungen sich der Schüler von all dem für ein gewisses Gebiet inneren Lebens reinigt, was nur aus der sinnlichen Beobachtungswelt kommt.) Es kann durchaus so kommen, dass dem Menschen auch vor der eigentlichen Erleuchtung wiederholt «Lichtblitze» kommen aus einer höheren Welt. Solche soll er dankbar hinnehmen. Sie schon können ihn zu einem Zeugen von der geistigen Welt ma- chen. Aber er sollte auch nicht wanken, wenn dies während seiner Vorbereitungszeit gar nicht der Fall ist, die ihm vielleicht allzu lang erscheint. Wer überhaupt in Ungeduld verfallen kann, «weil er noch nichts sieht», der hat noch nicht das rechte Verhältnis zu einer höheren Welt gewonnen. Das letztere hat nur derjenige erfasst, dem die Übungen, die er durch die Schu- lung macht, etwas wie Selbstzweck sein können. Dieses Üben ist ja in Wahrheit das Arbeiten an einem Geistig-Seelischen, näm- lich an dem eigenen Astralleibe. Und man kann «fühlen», auch wenn «man nichts sieht»: «Ich arbeite geistig-seelisch». Nur wenn man sich von vornherein eine bestimmte Meinung macht, was man eigentlich «sehen» will, dann wird man dieses Gefühl nicht haben. Dann wird man für nichts halten, was in Wahrheit etwas unermesslich Bedeutungsvolles ist. Man sollte aber subtil achten auf alles, was man während des Übens erlebt und was so grundverschieden ist von allen Erlebnissen in der sinnlichen Welt. Man wird dann schon bemerken, dass man in seinen Ast- ralleib hinein nicht wie in eine gleichgültige Substanz arbeitet, sondern dass in demselben lebt eine ganz andere Welt, von der man durch das Sinnenleben nichts weiß. Höhere Wesenheiten wirken auf den Astralleib, wie die physisch-sinnliche Außen- welt auf den physischen Leib wirkt. Und man «stößt» auf das höhere Leben in dem eigenen Astralleib, wenn man sich davor nur nicht verschließt. Wenn sich jemand immer wieder und wieder sagt: «ich nehme nichts wahr», dann ist es zumeist so, dass er sich eingebildet hat, diese Wahrnehmung müsse so oder so aussehen; und weil er das dann nicht sieht, wovon er sich einbildet, er müsse es sehen, so sagt er: «ich sehe nichts.» Wer sich aber die rechte Gesinnung aneignet gegenüber dem Üben der Schulung, der wird in diesem Üben immer mehr et- was haben, was er um seiner selbst willen liebt. Dann aber weiß er, dass er durch das Üben selbst in einer geistig-seelischen Welt steht, und er wartet in Geduld und Ergebung, was sich weiter ergibt. Es kann diese Gesinnung in dem Geistesschüler in fol- genden Worten am besten zum Bewusstsein kommen: «Ich will alles tun, was mir als Übungen angemessen ist, und ich weiß, dass mir in der entsprechenden Zeit so viel zukommen wird, als mir wichtig ist. Ich verlange dies nicht ungeduldig; mache mich aber immer bereit, es zu empfangen.» Dagegen lässt sich auch nicht einwenden: «Der Geistesschüler soll also im Dunkeln tap- pen, durch eine vielleicht unermesslich lange Zeit; denn dass er mit seinem Üben auf dem richtigen Wege ist, kann sich ihm doch erst zeigen, wenn der Erfolg da ist.» Es ist jedoch nicht so, dass erst der Erfolg die Erkenntnis von der Richtigkeit des Übens bringen kann. Wenn der Schüler richtig sich zu den Übungen stellt, dann gibt ihm die Befriedigung, die er durch das Üben selbst hat, die Klarheit, dass er etwas Richtiges tut, nicht erst der Erfolg. Richtig üben auf dem Gebiete der Geistesschu- lung verbindet sich eben mit einer Befriedigung, die nicht bloße Befriedigung, sondern Erkenntnis ist. Nämlich die Erkenntnis: ich tue etwas, wovon ich sehe, dass es mich in der richtigen Li- nie vorwärts bringt. Jeder Geistesschüler kann diese Erkenntnis in jedem Augenblick haben, wenn er nur auf seine Erlebnisse subtil aufmerksam ist. Wenn er diese Aufmerksamkeit nicht anwendet, dann geht er eben an den Erlebnissen vorbei, wie ein in Gedanken versunkener Fußgänger, der die Bäume zu beiden Seiten des Weges nicht sieht, obgleich er sie sehen würde, wenn er den Blick aufmerksam auf sie richtete. — Es ist durchaus nicht wünschenswert, dass das Eintreten eines anderen Erfolges, als derjenige ist, der im Üben sich immer ergibt, beschleunigt werde. Denn es könnte das leicht nur der geringste Teil dessen sein, was eigentlich eintreten sollte. In bezug auf die geistige Entwicklung ist oft ein teilweiser Erfolg der Grund einer star- ken Verzögerung des vollen Erfolges. Die Bewegung unter sol- chen Formen des geistigen Lebens, wie sie dem teilweisen Er- folg entsprechen, stumpft ab gegen die Einflüsse der Kräfte, welche zu höheren Punkten der Entwicklung führen. Und der Gewinn, den man dadurch erzielt, dass man doch in die geistige Welt «hineingesehen hat», ist nur ein scheinbarer; denn dieses Hineinschauen kann nicht die Wahrheit, sondern nur Trugbil- der liefern. Die geistig-seelischen Organe, die Lotusblumen, bilden sich so, dass sie dem übersinnlichen Bewusstsein an dem in Schulung befindlichen Menschen wie in der Nähe bestimmter physischer Körperorgane erscheinen. Aus der Reihe dieser Seelenorgane sollen hier genannt werden: dasjenige, das wie in der Nähe der Augenbrauenmitte erfühlt wird (die sogenannte zweiblättrige Lotusblume), dasjenige in der Gegend des Kehlkopfes (die sech- zehnblättrige Lotusblume), das dritte in der Herzgegend (die zwölfblättrige Lotusblume), das vierte in der Gegend der Ma- gengrube. Andere solche Organe erscheinen in der Nähe ande- rer physischer Körperteile. (Die Namen «zwei-» oder «sech- zehnblättrig» können gebraucht werden, weil die betreffenden Organe sich mit Blumen mit entsprechender Blätterzahl ver- gleichen lassen.) Die Lotusblumen werden an dem astralischen Leibe bewusst. In dem Zeitpunkte, in dem man die eine oder die andere entwi- ckelt hat, weiß man auch, dass man sie hat. Man fühlt, dass man sich ihrer bedienen kann und dass man durch ihren Gebrauch in eine höhere Welt wirklich eintritt. Die Eindrücke, welche man von dieser Welt erhält, gleichen in mancher Beziehung noch denen der physisch-sinnlichen. Wer imaginativ erkennt, wird von der neuen höheren Welt so sprechen können, dass er die Eindrücke als Wärme- oder Kälteempfindungen, Ton- oder Wortwahrnehmungen, Licht- oder Farbenwirkungen bezeich- net. Denn wie solche erlebt er sie. Er ist sich aber bewusst, dass diese Wahrnehmungen in der imaginativen Welt etwas anderes ausdrücken als in der sinnlich-wirklichen. Er erkennt, dass hin- ter ihnen nicht physisch-stoffliche Ursachen, sondern seelisch- geistige stehen. Wenn er etwas wie einen Wärmeeindruck hat, so schreibt er diesen nicht zum Beispiel einem heißen Stück Eisens zu, sondern er betrachtet ihn als Ausfluss eines seelischen Vorganges, wie er ihn bisher nur in seinem seelischen Innenle- ben gekannt hat. Er weiß, dass hinter den imaginativen Wahr- nehmungen seelische und geistige Dinge und Vorgänge stehen, wie hinter den physischen Wahrnehmungen stofflich-physische Wesen und Tatsachen. — Zu dieser Ähnlichkeit der imaginati- ven mit der physischen Welt kommt aber ein bedeutsamer Un- terschied hinzu. Es ist etwas in der physischen Welt vorhanden, was in der imaginativen ganz anders auftritt. In jener kann beo- bachtet werden ein fortwährendes Entstehen und Vergehen der Dinge, ein Wechsel von Geburt und Tod. In der imaginativen Welt tritt an Stelle dieser Erscheinung eine fortdauernde Ver- wandlung des einen in das andere. Man sieht zum Beispiel in der physischen Welt eine Pflanze vergehen. In der imaginativen zeigt sich in demselben Maße, in dem die Pflanze dahinwelkt, das Entstehen eines andern Gebildes, das physisch nicht wahr- nehmbar ist und in welches sich die vergehende pflanze allmäh- lich verwandelt. Wenn nun die Pflanze dahingeschwunden ist, so ist dieses Gebilde an ihrer Stelle voll entwickelt da. Geburt und Tod sind Vorstellungen, welche in der imaginativen Welt ihre Bedeutung verlieren. An ihre Stelle tritt der Begriff von Verwandlung des einen in das andere. — Weil dies so ist, des- halb werden für das imaginative Erkennen jene Wahrheiten über die Wesenheit des Menschen zugänglich, welche in diesem Buche in dem Kapitel «Wesen der Menschheit» mitgeteilt wor- den sind. Für das physisch-sinnliche Wahrnehmen sind nur die Vorgänge des physischen Leibes wahrnehmbar. Sie spielen sich im «Gebiete von Geburt und Tod» ab. Die andern Glieder der Menschennatur: Lebensleib, Empfindungsleib und Ich stehen unter dem Gesetze der Verwandlung, und ihre Wahrnehmung erschließt sich der imaginativen Erkenntnis. Wer bis zu dieser vorgeschritten ist, nimmt wahr, wie sich aus dem physischen Leibe gleichsam herauslöst dasjenige, was mit dem Hinsterben in anderer Daseinsart weiterlebt. Die Entwicklung bleibt nun aber innerhalb der imaginativen Welt nicht stehen. Der Mensch, der in ihr stehenbleiben wollte, würde zwar die in Verwandlung begriffenen Wesenheiten wahrnehmen; aber er würde die Verwandlungsvorgänge nicht deuten können, er würde sich nicht orientieren können in der neugewonnenen Welt. Die imaginative Welt ist ein unruhiges Gebiet. Es ist überall nur Beweglichkeit, Verwandlung in ihr; nirgends sind Ruhepunkte. — Zu solchen Ruhepunkten gelangt der Mensch erst, wenn er sich über die imaginative Erkenntnis- stufe hinaus zu dem entwickelt, was die «Erkenntnis durch In- spiration» genannt werden kann. — Es ist nicht notwendig, dass derjenige, welcher die Erkenntnis der übersinnlichen Welt sucht, sich etwa so entwickele, dass er zuerst in vollem Maße das imaginative Erkennen sich aneigne und dann erst zur «In- spiration» vorschreite. Seine Übungen können so eingerichtet werden, dass nebeneinander das geht, was zur Imagination, und das, was zur Inspiration führt. Er wird dann, nach entsprechen- der Zeit, in eine höhere Welt eintreten, in welcher er nicht bloß wahrnimmt, sondern in der er sich auch orientieren kann, die er zu deuten versteht. Der Fortschritt wird in der Regel al- lerdings so gemacht werden, dass sich zuerst dem Geistesschüler einige Erscheinungen der imaginativen Welt darbieten und nach einiger Zeit er in sich die Empfindung erhält: Jetzt fange ich auch an, mich zu orientieren. — Dennoch ist die Welt der Inspiration etwas ganz Neues gegenüber derjenigen der bloßen Imagination. Durch diese nimmt man die Verwandlung eines Vorganges in den andern wahr, durch jene lernt man innere Eigenschaften von Wesen kennen, welche sich verwandeln. Durch Imagination erkennt man die seelische Äußerung der Wesen; durch Inspiration dringt man in deren geistiges Innere. Man erkennt vor allem eine Vielheit von geistigen Wesenheiten und von Beziehungen des einen auf das andere. Mit einer Viel- heit verschiedener Wesen hat man es ja auch in der physisch- sinnlichen Welt zu tun; in der Welt der Inspiration ist diese Vielheit doch von einem anderen Charakter. Es ist da ein jedes Wesen in ganz bestimmten Beziehungen zu andern, nicht wie in der physischen durch äußere Einwirkung auf dasselbe, son- dern durch seine innere Beschaffenheit. Wenn man ein Wesen in der inspirierten Welt wahrnimmt, so zeigt sich nicht eine äußere Einwirkung auf ein anderes, die sich mit der Wirkung eines physischen Wesens auf ein anderes vergleichen ließe, sondern es besteht ein Verhältnis des einen zum andern durch die innere Beschaffenheit der beiden Wesen. Vergleichen lässt sich dieses Verhältnis mit einem solchen in der physischen Welt, wenn man dazu das Verhältnis der einzelnen Laute oder Buchstaben eines Wortes zueinander wählt. Wenn man das Wort «Mensch» vor sich hat, so wird es bewirkt durch den Zu- sammenklang der Laute: Mensch. Es geht nicht ein Anstoß oder sonst eine äußere Einwirkung zum Beispiel von dem M zu dem E hinüber, sondern beide Laute wirken zusammen, und zwar innerhalb eines Ganzen durch ihre innere Beschaffenheit. Des- halb lässt sich das Beobachten in der Welt der Inspiration nur vergleichen mit einem Lesen; und die Wesen in dieser Welt wirken auf den Betrachter wie Schriftzeichen, die er kennen- lernen muss und deren Verhältnisse sich für ihn enthüllen müs- sen wie eine übersinnliche Schrift. Die Geisteswissenschaft kann daher die Erkenntnis durch Inspiration vergleichsweise auch das «Lesen der verborgenen Schrift» nennen. Wie durch diese «verborgene Schrift» gelesen wird und wie man das Gelesene mitteilen kann, soll nun an den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches selbst klargemacht werden. Es wurde zunächst die Wesenheit des Menschen b~ schrieben, wie sie sich aufbaut aus verschiedenen Gliedern. Dann wurde gezeigt, wie das Weltwesen, auf dem sich der Mensch entwickelt, durch die verschiedenen Zustände, den Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenzustand hindurchgeht. Die Wahrnehmungen, durch welche man die Glieder des Menschen einerseits, die aufeinan- derfolgenden Zustände der Erde und ihrer vorhergehenden Verwandlungen andererseits erkennen kann, erschließen sich der imaginativen Erkenntnis. Nun ist aber weiter notwendig, dass erkannt werde, welche Beziehungen zwischen dem Saturnzustande und dem physischen Menschenleib, dem Son- nenzustande und dem Ätherleib usw. bestehen. Es muss gezeigt werden, dass der Keim zum physischen Menschenleib schon während des Saturnzustandes entstanden ist, dass er sich dann weiterentwickelt hat bis zu seiner gegenwärtigen Gestalt wäh- rend des Sonnen-, Monden- und Erdenzustandes. Es musste zum Beispiel auch darauf hingewiesen werden, welche Verän- derungen sich mit dem Menschenwesen vollzogen haben da- durch, dass einmal die Sonne sich von der Erde trennte, dass ein Ähnliches bezüglich des Mondes geschah. Es musste ferner mit- geteilt werden, was zusammenwirkte, damit solche Verände- rungen mit der Menschheit sich vollziehen konnten, wie sie in den Umwandlungen während der atlantischen Zeit, wie sie in den aufeinanderfolgenden Perioden, der indischen, der urpersi- schen, der ägyptischen usw., sich ausdrücken. Die Schilderung dieser Zusammenhänge ergibt sich nicht aus der imaginativen Wahrnehmung, sondern aus der Erkenntnis durch Inspiration, aus dem Lesen der verborgenen Schrift. Für dieses «Lesen» sind die imaginativen Wahrnehmungen wie Buchstaben oder Laute. Dieses «Lesen» ist aber nicht nur für Aufklärungen notwendig, wie die eben gekennzeichneten. Schon den Lebensgang des gan- zen Menschen könnte man nicht verstehen, wenn man ihn nur durch die imaginative Erkenntnis betrachten würde. Man wür- de da zwar wahrnehmen, wie sich mit dem Hinsterben die see- lisch-geistigen Glieder aus dem in der physischen Welt Verblei- benden loslösen; aber man würde die Beziehungen dessen, was nach dem Tode mit dem Menschen geschieht, zu den vorherge- henden und nachfolgenden Zuständen nicht verstehen, wenn man sich innerhalb des imaginativ Wahrgenommenen nicht orientieren könnte. Ohne die Erkenntnis durch Inspiration ver- bliebe die imaginative Welt wie eine Schrift, die man anstarrt, die man aber nicht zu lesen vermag. Wenn der Geistesschüler fortschreitet von der Imagination zur Inspiration, so zeigt sich ihm sehr bald, wie unrichtig es wäre, auf das Verständnis der großen Welterscheinungen zu verzich- ten und sich nur auf die Tatsachen beschränken zu wollen, wel- che gewissermaßen das nächste menschliche Interesse berüh- ren. Wer in diese Dinge nicht eingeweiht ist, der könnte wohl das Folgende sagen: «Mir erscheint es doch nur wichtig, das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tode zu erfahren; wenn mir jemand darüber Mitteilungen macht, so ist mir das genug: wozu führt mir die Geisteswissenschaftlich entlegene Dinge vor, wie Saturn-, Sonnenzustand, Sonnen-, Mondentren- nung und so weiter.» Wer aber in diese Dinge richtig eingeführt ist, der lernt erkennen, dass ein wirkliches Wissen über das, was er erfahren will, nie zu erlangen ist ohne eine Erkenntnis des- sen, was ihm so unnötig scheint. Eine Schilderung der Men- schenzustände nach dem Tode bleibt völlig unverständlich und wertlos, wenn der Mensch sie nicht mit Begriffen verbinden kann, welche von jenen entlegenen Dingen hergenommen sind. Schon die einfachste Beobachtung des übersinnlich Erkennen- den macht seine Bekanntschaft mit solchen Dingen notwendig. Wenn zum Beispiel eine Pflanze von dem Blütenzustand in den Fruchtzustand übergeht, so sieht der übersinnlich beobachtende Mensch eine Verwandlung in einer astralischen Wesenheit vor sich gehen, welche während des Blühens die Pflanze wie eine Wolke von oben bedeckt und umhüllt hat. Wäre die Befruch- tung nicht eingetreten, so wäre diese astralische Wesenheit in eine ganz andere Gestalt übergegangen, als die ist, welche sie infolge der Befruchtung angenommen hat. Nun versteht man den ganzen durch die übersinnliche Beobachtung wahrgenom- menen Vorgang, wenn man sein Wesen verstehen gelernt hat an jenem großen Weltvorgange, welcher sich mit der Erde und allen ihren Bewohnern vollzogen hat zur Zeit der Sonnentren- nung. Vor der Befruchtung ist die Pflanze in einer solchen Lage, wie die ganze Erde vor der Sonnentrennung. Nach der Befruch- tung zeigt sich die Blüte der Pflanze so, wie die Erde war, als sich die Sonne abgetrennt hatte und die Mondenkräfte noch in ihr waren. Hat man sich die Vorstellungen zu eigen gemacht, welche an der Sonnentrennung gewonnen werden können, so wird man die Deutung des Pflanzen-Befruchtungsvorganges sachgemäß so wahrnehmen, dass man sagt: Die Pflanze ist vor der Befruchtung in einem Sonnenzustand, nach derselben in einem Mondenzustand. Es ist eben durchaus so, dass auch der kleinste Vorgang in der Welt nur dann begriffen werden kann, wenn in ihm ein Abbild großer Weltvorgänge erkannt wird. Sonst bleibt er seinem Wesen nach so unverständlich, wie die Raffaelsche Madonna für denjenigen bleibt, der nur ein kleines blaues Fleckchen sehen kann, während alles andere zugedeckt ist. — Alles, was nun am Menschen vorgeht, ist ein Abbild all der großen Weltvorgänge, die mit seinem Dasein zu tun haben. Will man die Beobachtungen des übersinnlichen Bewusstseins über die Erscheinungen zwischen Geburt und Tod und wieder vom Tode bis zu einer neuen Geburt verstehen, so kann man dies, wenn man sich die Fähigkeit erworben hat, die imaginati- ven Beobachtungen durch dasjenige zu entziffern, was man sich an Vorstellungen angeeignet hat durch die Betrachtung der großen Weltvorgänge. — Diese Betrachtung liefert eben den Schlüssel zum Verständnisse des menschlichen Lebens. Daher ist im Sinne der Geisteswissenschaft Saturn-, Sonnen-, Mondbe- obachtung usw. zugleich Beobachtung des Menschen. Durch Inspiration gelangt man dazu, die Beziehungen zwischen den Wesenheiten der höheren Welt zu erkennen. Durch eine weitere Erkenntnisstufe wird es möglich, diese Wesenheiten in ihrem Innern selbst zu erkennen. Diese Erkenntnisstufe kann die intuitive Erkenntnis genannt werden. (Intuition ist ein Wort, das im gewöhnlichen Leben missbraucht wird für eine unklare, unbestimmte Einsicht in eine Sache, für eine Art Ein- fall, der zuweilen mit der Wahrheit stimmt, dessen Berechti- gung aber zunächst nicht nachweisbar ist. Mit dieser Art «Intui- tion» hat das hier. Gemeinte natürlich nichts zu tun. Intuition bezeichnet hier eine Erkenntnis von höchster, lichtvollster Klarheit, deren Berechtigung man sich, wenn man sie hat, in vollstem Sinne bewusst ist.) — Ein Sinneswesen erkennen, heißt außerhalb desselben stehen und es nach dem äußeren Eindruck beurteilen. Ein Geisteswesen durch Intuition erken- nen, heißt völlig eins mit ihm geworden sein, sich mit seinem Innern vereinigt haben. Stufenweise steigt der Geistesschüler zu solcher Erkenntnis hinauf. Die Imagination führt ihn dazu, die Wahrnehmungen nicht mehr als äußere Eigenschaften von We- sen zu empfinden, sondern in ihnen Ausflüsse von Seelisch- Geistigem zu erkennen; die Inspiration führt ihn weiter in das Innere der Wesen: Er lernt durch sie verstehen, was diese We- senheiten für einander sind; in der Intuition dringt er in die Wesen selbst ein. — Wieder kann an den Ausführungen dieses Buches selbst gezeigt werden, was für eine Bedeutung die Intui- tion hat. Es wurde in den vorhergehenden Kapiteln nicht nur davon gesprochen, wie der Fortgang der Saturn-, Sonnen-, Mondenentwicklung usw. geschieht, sondern es wurde mitge- teilt, dass Wesen sich an diesem Fortgange in der verschiedens- ten Art beteiligen. Es wurden Throne oder Geister des Willens, Geister der Weisheit, der Bewegung usw. angeführt. Es wurde bei der Erdenentwicklung von den Geistern des Luzifer, des Ahriman gesprochen. Der Weltenbau wurde auf die Wesenhei- ten zurückgeführt, welche sich an ihm beteiligen. Was über diese Wesenheiten erfahren werden kann, wird durch die intui- tive Erkenntnis gewonnen. Diese ist auch schon notwendig, wenn man den Lebenslauf des Menschen erkennen will. Was sich nach dem Tode aus der physischen Leiblichkeit des Men- schen herauslöst, das macht nun in der Folgezeit verschiedene Zustände durch. Die nächsten Zustände nach dem Tode wären noch einigermaßen durch die imaginative Erkenntnis zu be- schreiben. Was aber dann vorgeht, wenn der Mensch weiter kommt in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, das müsste der Imagination ganz unverständlich bleiben, wenn nicht die Inspiration hinzukäme. Nur die Inspiration kann er- forschen, was von dem Leben des Menschen nach der Läuterung im «Geisterland» gesagt werden kann. Dann aber kommt ein Etwas, für welches die Inspiration nicht mehr ausreicht, wo sie gewissermaßen den Faden des Verständnisses verliert. Es gibt eine Zeit der menschlichen Entwicklung zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, wo das menschliche Wesen nur der Intuition zugänglich ist. — Dieser Teil der menschlichen We- senheit ist aber immer in dem Menschen; und will man ihn, seiner wahren Innerlichkeit nach, verstehen, so muss man ihn auch in der Zeit zwischen der Geburt und dem Tode durch die Intuition aufsuchen. Wer den Menschen nur mit den Mitteln der Imagination und Inspiration erkennen wollte, dem entzögen sich gerade die Vorgänge des innersten Wesens desselben, die von Verkörperung zu Verkörperung sich abspielen. Nur die in- tuitive Erkenntnis macht daher eine sachgemäße Erforschung von den wiederholten Erdenleben und vom Karma möglich. Alles, was als Wahrheit über diese Vorgänge mitgeteilt werden soll, muss der Forschung durch intuitive Erkenntnis entstam- men. — Und will der Mensch sich selbst seiner inneren Wesen- heit nach erkennen, so kann er dies nur durch Intuition. Durch sie nimmt er wahr, was sich in ihm von Erdenleben zu Erdenle- ben fortbewegt. Erlangen kann der Mensch die Erkenntnis durch Inspiration und Intuition auch nur durch seelisch-geistige Übungen. Sie sind denen ähnlich, welche als «innere Versenkung» (Meditati- on) zur Erreichung der Imagination geschildert worden sind. Während aber bei jenen Übungen, welche zur Imagination füh- ren, eine Anknüpfung stattfindet an die Eindrücke der sinnlich- physischen Welt, muss bei denen für die Inspiration diese An- knüpfung immer mehr wegfallen. Um sich zu verdeutlichen, was da zu geschehen hat, denke man nochmals an das Sinnbild des Rosenkreuzes. Wenn man sich in dasselbe versenkt, so hat man ein Bild vor sich, dessen Teile von Eindrücken der sinnli- chen Welt genommen sind: die schwarze Farbe des Kreuzes, die Rosen usw. Die Zusammenstellung dieser Teile zum Rosenkreuz ist aber nicht aus der sinnlich-physischen Welt genommen. Wenn nun der Geistesschüler versucht, aus seinem Bewusstsein das schwarze Kreuz und auch die roten Rosen als Bilder von sinnlich-wirklichen Dingen ganz verschwinden zu lassen und nur in der Seele jene geistige Tätigkeit zu behalten, welche diese Teile zusammengesetzt hat, dann hat er ein Mittel zu einer sol- chen Meditation, welche ihn nach und nach zur Inspiration führt. Man frage sich in seiner Seele etwa in folgender Art: Was habe ich innerlich getan, um Kreuz und Rose zu dem Sinnbild zusammenzufügen? Was ich getan habe (meinen eigenen See- lenvorgang) will ich festhalten; das Bild selber aber aus dem Bewusstsein verschwinden lassen. Dann will ich alles in mir fühlen, was meine Seele getan hat, um das Bild zustande zu bringen, das Bild selbst aber will ich mir nicht vorstellen. Ich will nunmehr ganz innerlich leben in meiner eigenen Tätigkeit, welche das Bild geschaffen hat. Ich will mich also in kein Bild, sondern in meine eigene bilderzeugende Seelentätigkeit versen- ken. Solche Versenkung muss in bezug auf viele Sinnbilder vor- genommen werden. Das führt dann zur Erkenntnis durch Inspi- ration. Ein anderes Beispiel wäre dies: Man versenkt sich in die Vorstellung einer entstehenden und vergehenden Pflanze. Man lässt in der Seele das Bild einer nach und nach werdenden Pflanze entstehen, wie sie aus dem Keime aufspießt, wie sie Blatt nach Blatt entfaltet, bis zur Blüte und zur Frucht. Dann wieder, wie das Hinwelken beginnt, bis zur völligen Auflösung. Man gelangt allmählich durch die Versenkung in solch ein Bild zu einem Gefühl des Entstehens und Vergehens, für welches die Pflanze nur noch Bild ist. Aus diesem Gefühl kann dann, wenn die Übung ausdauernd fortgesetzt wird, sich die Imagination von jener Verwandlung herausbilden, welche dem physischen Entstehen und Vergehen zum Grunde liegt. Will man aber zur entsprechenden Inspiration kommen, dann muss man die Übung noch anders machen. Man muss sich auf die eigene See- lentätigkeit besinnen, welche aus dem Bilde der Pflanze die Vorstellung von Entstehen und Vergehen gewonnen hat. Man muss die Pflanze nun ganz aus dem Bewusstsein verschwinden lassen und sich nur in das hineinversenken, was man selbst in- nerlich getan hat. Durch solche Übungen nur ist ein Aufsteigen zur Inspiration möglich. Zunächst wird es dem Geistesschüler nicht ganz leicht sein, in vollem Umfange zu begreifen, wie er sich zu einer solchen Übung anzuschicken hat. Es rührt dies davon her, dass der Mensch, welcher gewohnt ist, sich sein In- nenleben von den äußeren Eindrücken bestimmen zu lassen, sofort ins Unsichere und völlig Schwankende gerät, wenn er noch ein Seelenleben entfalten soll, das alle Anknüpfung an äu- ßere Eindrücke abgeworfen hat. In einem noch höheren Maße als bezüglich der Erwerbung von Imaginationen muss der Geis- tesschüler sich gegenüber diesen Übungen zur Inspiration klar sein, dass er sie nur vornehmen sollte, wenn er nebenher gehen lässt alle Vorkehrungen, welche zur Sicherung und Festigung der Urteilsfähigkeit, des Gefühlslebens und des Charakters füh- ren Können. Trifft er diese Vorkehrungen, so wird er ein Zwei- faches davon als Erfolg haben. Erstens wird er durch die Übun- gen nicht das Gleichgewicht seiner Persönlichkeit beim über- sinnlichen Schauen verlieren können; zweitens wird er sich zugleich die Fähigkeit aneignen, das wirklich ausführen zu kön- nen, was in diesen Übungen verlangt wird. Man wird diesen Übungen gegenüber nur so lange sagen, sie seien schwierig, als man sich eine ganz gewisse Seelenverfassung, ganz gewisse Ge- fühle und Empfindungen noch nicht angeeignet hat. Derjenige wird alsbald Verständnis und auch Fähigkeit für die Übungen gewinnen, der in Geduld und Ausdauer in seiner Seele solche innere Eigenschaften pflegt, welche dem Aufkeimen übersinnli- cher Erkenntnisse günstig sind. Wer sich daran gewöhnt, öfters Einkehr in sein Inneres so zu halten, dass es ihm dabei weniger zu tun ist, über sich selbst nachzugrübeln, als vielmehr still in sich die im Leben gemachten Erfahrungen zu ordnen und zu verarbeiten, der wird viel gewinnen. Er wird sehen, dass man seine Vorstellungen und Gefühle bereichert, wenn man die eine Lebenserfahrung mit der anderen in ein Verhältnis bringt. Er wird gewahr werden, in wie hohem Grade man nicht nur da- durch Neues erfährt, dass man neue Eindrücke und neue Erleb- nisse hat, sondern auch dadurch, dass man die alten in sich ar- beiten lässt. Und wer dabei so zu Werke geht, dass er seine Er- lebnisse, ja sogar seine gewonnenen Meinungen so gegeneinan- der spielen lässt, als ob er selbst mit seinen Sympathien und An- tipathien, mit seinen persönlichen Interessen und Gefühlen gar nicht dabei wäre, der wird für die übersinnlichen Erkenntnis- kräfte einen besonders guten Boden zubereiten. Er wird in Wahrheit das ausbilden, was man ein reiches Innenleben nen- nen kann. Worauf es aber vor allem ankommt, das ist Gleich- maß und Gleichgewicht der Seeleneigenschaften. Der Mensch ist nur zu leicht geneigt, wenn er sich einer gewissen Seelentä- tigkeit hingibt, in Einseitigkeit zu verfallen. So kann er, wenn er den Vorteil des inneren Nachsinnens und des Verweilens in der eigenen Vorstellungswelt gewahr wird, dafür eine solche Nei- gung erhalten, dass er sich gegen die Eindrücke der Außenwelt immer mehr verschließt. Das aber führt zur Vertrocknung und Verödung des Innenlebens. Am weitesten kommt derjenige, welcher sich neben der Fähigkeit, sich in sein Inneres zurück- zuziehen, auch die offene Empfänglichkeit bewahrt für alle Eindrücke der Außenwelt. Und man braucht dabei nicht etwa bloß an die sogenannten bedeutsamen Eindrücke des Lebens zu denken, sondern es kann jeder Mensch in jeder Lage auch in noch so ärmlichen vier Wänden — genug erleben, wenn er nur den Sinn dafür empfänglich hält. Man braucht die Erlebnisse nicht erst zu suchen; sie sind überall da. — Von besonderer Wichtigkeit ist auch, wie Erlebnisse in des Menschen Seele ver- arbeitet werden. Es kann zum Beispiel jemand die Erfahrung machen, dass eine von ihm oder andern verehrte Persönlichkeit diese oder jene Eigenschaft habe, die er als Charakterfehler be- zeichnen muss. Durch eine solche Erfahrung kann der Mensch in einer zweifachen Richtung zum Nachdenken veranlasst wer- den. Er kann sich einfach sagen: Jetzt, nachdem ich dies erkannt habe, kann ich jene Persönlichkeit nicht mehr in derselben Art verehren wie früher. Oder aber er kann sich die Frage vorlegen: Wie ist es möglich, dass die verehrte Persönlichkeit mit jenem Fehler behaftet ist? Wie muss ich mir vorstellen, dass der Fehler nicht nur Fehler, sondern etwas durch das Leben der Persön- lichkeit, vielleicht gerade durch ihre großen Eigenschaften Ver- ursachtes ist? Ein Mensch, welcher sich diese Fragen vorlegt, wird vielleicht zu dem Ergebnis kommen, dass seine Verehrung nicht im geringsten durch das Bemerken des Fehlers zu verrin- gern ist. Man wird durch ein solches Ergebnis jedesmal etwas gelernt haben, man wird seinem Lebensverständnis etwas beige- fügt haben. Nun wäre es gewiss schlimm für denjenigen, der sich durch das Gute einer solchen Lebensbetrachtung verleiten ließe, bei Personen oder Dingen, welche seine Neigung haben, alles Mögliche zu entschuldigen oder etwa gar zu der Gewohn- heit überzugehen, alles Tadelnswerte unberücksichtigt zu las- sen, weil ihm das Vorteil bringt für seine innere Entwicklung. Dies letztere ist nämlich dann nicht der Fall, wenn man durch sich selbst den Antrieb erhält, Fehler nicht bloß zu tadeln, son- dern zu verstehen; sondern nur, wenn ein solches Verhalten durch den betreffenden Fall selbst gefordert wird, gleichgültig, was der Beurteiler dabei gewinnt oder verliert. Es ist durchaus richtig: Lernen kann man nicht durch die Verurteilung eines Fehlers, sondern nur durch dessen Verstehen. Wer aber wegen des Verständnisses durchaus das Missfallen ausschließen wollte, der käme auch nicht weit. Auch hier kommt es nicht auf Einsei- tigkeit in der einen oder andern Richtung an, sondern auf Gleichmaß und Gleichgewicht der Seelenkräfte. — Und so ist es ganz besonders mit einer Seeleneigenschaft, die für des Men- schen Entwicklung ganz hervorragend bedeutsam ist; mit dem, was man Gefühl der Verehrung (Devotion) nennt. Wer dieses Gefühl in sich heranbildet oder es durch eine glückliche Natur- gabe von vornherein besitzt, der hat einen guten Boden für die übersinnlichen Erkenntniskräfte. Wer in seiner Kindheits und Jugendzeit mit hingebungsvoller Bewunderung zu Personen wie zu hohen Idealen hinaufschauen konnte, in dessen Seelengrund ist etwas, worinnen übersinnliche Erkenntnisse besonders gut gedeihen. Und wer bei reifem Urteile im späteren Leben zum Sternenhimmel blickt und in restloser Hingabe die Offenbarung hoher Mächte bewundernd empfindet, der macht sich eben da- durch reif zum Erkennen der übersinnlichen Welten. Ein glei- ches ist bei demjenigen der Fall, welcher die im Menschenleben waltenden Kräfte zu bewundern vermag. Und von nicht gerin- ger Bedeutung ist es, wenn man auch noch als gereifter Mensch Verehrung bis zu den höchsten Graden für andere Menschen haben kann, deren Wert man ahnt oder zu erkennen glaubt. Nur wo solche Verehrung vorhanden ist, kann sich die Aussicht in die höheren Welten eröffnen. Wer nicht verehren kann, wird keinesfalls in seiner Erkenntnis besonders weit kommen. Wer nichts in der Welt anerkennen will, dem verschließt sich das Wesen der Dinge. — Wer sich jedoch durch das Gefühl der Verehrung und Hingabe dazu verführen lässt, das gesunde Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen in sich ganz zu ertöten, der versündigt sich gegen das Gesetz des Gleichmaßes und Gleichgewichtes. Der Geistesschüler wird fortdauernd an sich arbeiten, um sich immer reifer und reifer zu machen; aber dann darf er auch das Vertrauen zu der eigenen Persönlichkeit haben und glauben, dass deren Kräfte immer mehr wachsen. Wer in sich zu richtigen Empfindungen nach dieser Richtung kommt, der sagt sich: In mir liegen Kräfte verborgen, und ich kann sie aus meinem Innern hervorholen. Ich brauche daher dort, wo ich etwas sehe, das ich verehren muss, weil es über mir steht, nicht bloß zu verehren, sondern ich darf mir zutrauen, alles das in mir zu entwickeln, was mich diesem oder jenem Verehrten gleich macht. Je größer in einem Menschen die Fähigkeit ist, Aufmerksamkeit auf gewisse Vorgänge des Lebens zu richten, welche nicht von vornherein dem persönlichen Urteil vertraut sind, desto größer ist für ihn die Möglichkeit, sich Unterlagen zu schaffen für eine Entwicklung in geistige Welten hinauf. Ein Beispiel mag dies anschaulich machen. Ein Mensch komme in eine Lebenslage, wo er eine gewisse Handlung tun oder unterlassen kann. Sein Urteil sage ihm: Tue dies. Aber es sei doch ein gewisses uner- klärliches Etwas in seinen Empfindungen, das ihn von der Tat abhält. Es kann nun so sein, dass der Mensch auf dieses uner- klärliche Etwas keine Aufmerksamkeit verwendet, sondern ein- fach die Handlung so vollbringt, wie es seiner Urteilsfähigkeit angemessen ist. Es kann aber auch so sein, dass der Mensch dem Drange jenes unerklärlichen Etwas nachgibt und die Handlung unterlässt. Verfolgt er dann die Sache weiter, so kann sich her- ausstellen, dass Unheil gefolgt wäre, wenn er seinem Urteil ge- folgt wäre; dass jedoch Segen entstanden ist durch das Unterlas- sen. Solch eine Erfahrung kann das Denken des Menschen in eine ganz bestimmte Richtung bringen. Er kann sich sagen: In mir lebt etwas, was mich richtiger leitet als der Grad von Ur- teilsfähigkeit, welchen ich in der Gegenwart habe. Ich muss mir den Sinn offen halten für dieses «Etwas in mir», zu dem ich mit meiner Urteilsfähigkeit noch gar nicht herangereift bin. Es wirkt nun in hohem Grade günstig auf die Seele, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf solche Fälle im Leben richtet. Es zeigt sich ihr dann wie in einer gesunden Ahnung, dass im Menschen mehr ist, als was er jeweilig mit seiner Urteilskraft übersehen kann. Solche Aufmerksamkeit arbeitet auf eine Erweiterung des Seelenlebens hin. Aber auch hier können sich wieder Einseitig- keiten ergeben, welche bedenklich sind. Wer sich gewöhnen wollte, stets deshalb sein Urteil auszuschalten, weil ihn «Ah- nungen» zu dem oder jenem treiben, der könnte ein Spielball von allen möglichen unbestimmten Trieben werden. Und von einer solchen Gewohnheit zur Urteilslosigkeit und zum Aberg- lauben ist es nicht weit. — Verhängnisvoll für den Geistesschü- ler ist eine jegliche Art von Aberglauben. Man erwirbt sich nur dadurch die Möglichkeit, in einer wahrhaften Art in die Gebiete des Geisteslebens einzudringen, dass man sich sorgfältig hütet vor Aberglauben, Phantastik und Träumerei. Nicht derjenige kommt in einer richtigen Weise in die geistige Welt hinein, welcher froh ist, wenn er irgendwo einen Vorgang erleben kann, der «von dem menschlichen Vorstellen nicht begriffen werden kann». Die Vorliebe für das «Unerklärliche» macht ge- wiss niemanden zum Geistesschüler. Ganz abgewöhnen muss sich dieser das Vorurteil, dass ein «Mystiker der sei, welcher in der Welt ein Unerklärliches, Unerforschliches» überall da vo- raussetzt, wo es ihm angemessen erscheint. Das rechte Gefühl für den Geistesschüler ist, überall verborgene Kräfte und We- senheiten anzuerkennen; aber auch vorauszusetzen, dass das Unerforschte erforscht werden kann, wenn die Kräfte dazu vor- handen sind. Es gibt eine gewisse Seelenverfassung, welche dem Geistesschü- ler auf jeder Stufe seiner Entwicklung wichtig ist. Sie besteht darin, seinen Erkenntnistrieb nicht einseitig so zu stellen, dass dieser immer darauf ausgeht: Wie kann man auf diese oder jene Frage antworten? Sondern darauf: Wie entwickele ich diese oder jene Fähigkeit in mir? Ist dann durch innere geduldige Ar- beit an sich diese oder jene Fähigkeit entwickelt, so fällt dem Menschen die Antwort auf gewisse Fragen zu. Geistesschüler werden immer diese Seelenverfassung in sich pflegen. Dadurch werden sie dazu geführt, an sich zu arbeiten, sich immer reifer und reifer zu machen und sich zu versagen, Antworten auf ge- wisse Fragen herbeizwingen zu wollen. Sie werden warten, bis ihnen solche Antworten zufallen. — Wer aber auch darin wie- der an Einseitigkeit sich gewöhnt, auch der kommt nicht richtig vorwärts. Der Geistesschüler kann auch das Gefühl haben, in einem bestimmten Zeitpunkte sich mit dem Maße seiner Kräfte selbst die höchsten Fragen zu beantworten. Also auch hier spie- len Gleichmaß und Gleichgewicht in der Seelenverfassung eine gewichtige Rolle. Noch viele Seeleneigenschaften könnten besprochen werden, deren Pflege und Entwicklung förderlich ist, wenn der Geistes- schüler die Inspiration durch Übungen anstreben will. Bei allem würde zu betonen sein, dass Gleichmaß und Gleichgewicht die- jenigen Seeleneigenschaften sind, auf die es ankommt. Sie berei- ten das Verständnis und die Fähigkeit für die charakterisierten Übungen vor, die behufs der Erlangung der Inspiration zu ma- chen sind. Die Übungen zur Intuition erfordern, dass der Geistesschüler aus seinem Bewusstsein nicht nur die Bilder verschwinden lässt, welchen er sich zur Erlangung der Imagination hingegeben hat, sondern auch das Leben in der eigenen Seelentätigkeit, in wel- che er sich für die Erwerbung der Inspiration versenkt hat. Er soll also dann buchstäblich nichts von vorher gekanntem äuße- ren oder inneren Erleben in seiner Seele haben. Würde nun aber nach diesem Abwerfen der äußeren und der inneren Er- lebnisse nichts in seinem Bewusstsein sein, das heißt, würde ihm das Bewusstsein überhaupt dahinschwinden und er in Be- wusstlosigkeit versinken, so könnte er daran erkennen, dass er sich noch nicht reif gemacht hat, Übungen für die Intuition vorzunehmen; und er müsste dann die Übungen für die Imagi- nation und Inspiration fortsetzen. Es kommt schon einmal die Zeit, in welcher das Bewusstsein nicht leer ist, wenn die Seele die inneren und äußeren Erlebnisse abgeworfen hat, sondern wo nach diesem Abwerfen als Wirkung etwas im Bewusstsein zurückbleibt, dem man sich dann in Versenkung ebenso hinge- ben kann, wie man sich vorher dem hingegeben hat, was äußer- lichen oder inneren Eindrücken sein Dasein verdankt. Es ist dieses «Etwas» aber von ganz besonderer Art. Es ist gegenüber allen vorhergehenden Erfahrungen etwas wirklich Neues. Man weiß, wenn man es erlebt: Dies habe ich vorher nicht gekannt. Dies ist eine Wahrnehmung, wie der wirkliche Ton eine Wahr- nehmung ist, welchen das Ohr hört; aber es kann dieses Etwas nur in mein Bewusstsein treten durch die Intuition, wie der Ton nur ins Bewusstsein treten kann durch das Ohr. Durch die Intu- ition ist der letzte Rest des Sinnlich-Physischen von des Men- schen Eindrücken abgestreift; die geistige Welt beginnt für die Erkenntnis offen zu liegen in einer Form, die nichts mehr ge- mein hat mit den Eigenschaften der physisch-sinnlichen Welt. Die imaginative Erkenntnis wird erreicht durch die Ausgestal- tung der Lotusblumen aus dem astralischen Leibe heraus. Durch diejenigen Übungen, welche zur Erlangung von Inspiration und Intuition unternommen werden, treten im menschlichen Äther- oder Lebensleib besondere Bewegungen, Gestaltungen und Strömungen auf, welche vorher nicht da waren. Sie sind eben die Organe, durch welche der Mensch das «Lesen der verborge- nen Schrift» und das, was darüber hinausliegt, in den Bereich seiner Fähigkeiten aufnimmt. Für das übersinnliche Erkennen stellen sich die Veränderungen im Ätherleibe eines Menschen, der zur Inspiration und Intuition gelangt ist, in der folgenden Art dar. Es wird, ungefähr wie in der Gegend nahe dem physi- schen Herzen, ein neuer Mittelpunkt im Ätherleibe bewusst, der sich zu einem ätherischen Organe ausgestaltet. Von diesem laufen Bewegungen und Strömungen nach den verschiedenen Gliedern des menschlichen Leibes in der mannigfaltigsten Wei- se. Die wichtigsten dieser Strömungen gehen zu den Lotusblu- men, durchziehen dieselben und ihre einzelnen Blätter und ge- hen dann nach außen, wo sie wie Strahlen sich in den äußeren Raum ergießen. Je entwickelter der Mensch ist, desto größer ist der Umkreis um ihn herum, in dem diese Strömungen wahr- nehmbar sind. Der Mittelpunkt in der Gegend des Herzens bil- det sich aber bei regelrechter Schulung nicht gleich im Anfang aus. Er wird erst vorbereitet. Zuerst entsteht als ein vorläufiger Mittelpunkt ein solcher im Kopfe; der rückt dann hinunter in die Kehlkopfgegend und verlegt sich zuletzt in die Nähe des physischen Herzens. Würde die Entwicklung unregelmäßig sein, so könnte sogleich in der Herzgegend das in Rede stehende Organ gebildet werden. Dann läge die Gefahr vor, dass der Mensch, statt zur ruhigen, sachgemäßen übersinnlichen Scha- lung zu kommen, zum Schwärmer und Phantasten' würde. In seiner weiteren Entwicklung gelangt der Geistesschüler dazu, die ausgebildeten Strömungen und Gliederungen seines Äther- leibes unabhängig zu machen von dem physischen Leibe und sie selbständig zu gebrauchen. Es dienen ihm die Lotusblumen da- bei als Werkzeuge, durch welche er den Ätherleib bewegt. Be- vor dieses geschieht, müssen sich aber in dem ganzen Umkreis des Ätherleibes besondere Strömungen und Strahlungen gebil- det haben, welche ihn wie durch ein feines Netzwerk in sich abschließen und zu einer in sich geschlossenen Wesenheit ma- chen. Wenn das geschehen ist, können ungehindert die im Ätherleibe sich vollziehenden Bewegungen und Strömungen sich mit der äußeren seelisch-geistigen Welt berühren und mit ihnen sich verbinden, so dass äußeres geistig-seelisches Gesche- hen und inneres (dasjenige im menschlichen Ätherleibe) inei- nander fließen. Wenn das geschieht, ist eben der Zeitpunkt ein- getreten, in dem der Mensch die Welt der Inspiration bewusst wahrnimmt. Dieses Erkennen tritt in einer anderen Art auf als das Erkennen in bezug auf die sinnlich-physische Welt. In die- ser bekommt man durch die Sinne Wahrnehmungen und macht sich dann über diese Wahrnehmungen Vorstellungen und Be- griffe. Beim Wissen durch die Inspiration ist es nicht so. Was man erkennt, ist unmittelbar, in einem Akte da; es gibt nicht ein Nachdenken nach der Wahrnehmung. Was für das sinnlich- physische Erkennen erst hinterher im Begriffe gewonnen wird, ist bei der Inspiration zugleich mit der Wahrnehmung gegeben. Man würde deshalb mit der seelisch-geistigen Umwelt in eins zusammenfließen, sich von ihr gar nicht unterscheiden können, wenn man das oben charakterisierte Netzwerk im Ätherleibe nicht ausgebildet hätte. Wenn die Übungen für die Intuition gemacht werden, so wir- ken sie nicht allein auf den Ätherleib, sondern bis in die über- sinnlichen Kräfte des physischen Leibes hinein. Man sollte sich allerdings nicht vorstellen, dass auf diese Art Wirkungen im physischen Leibe vor sich gehen, welche der gewöhnlichen Sin- nenbeobachtung zugänglich sind. Es sind Wirkungen, welche nur das übersinnliche Erkennen beurteilen kann. Sie haben mit aller äußeren Erkenntnis nichts zu tun. Sie stellen sich ein als Erfolg der Reife des Bewusstseins, wenn dieses in der Intuition Erlebnisse haben kann, trotzdem es alle vorher gekannten äuße- ren und inneren Erlebnisse aus sich herausgesondert hat. — Nun sind aber die Erfahrungen der Intuition zart, intim und fein; und der physische Menschenleib ist auf der gegenwärtigen Stufe seiner Entwicklung im Verhältnisse zu ihnen grob. Er bie- tet deshalb ein stark wirkendes Hindernis für den Erfolg der Intuitionsübungen. Werden diese mit Energie und Ausdauer und in der notwendigen inneren Ruhe fortgesetzt, so überwin- den sie zuletzt die gewaltigen Hindernisse des physischen Lei- bes. Der Geistesschüler bemerkt das daran, dass er allmählich gewisse Äußerungen des physischen Leibes, die vorher ganz ohne sein Bewusstsein erfolgten, in seine Gewalt bekommt. Er bemerkt es auch daran, dass er für kurze Zeit das Bedürfnis empfindet, zum Beispiel das Atmen (oder dergleichen) so einzu- richten, dass es in eine Art Einklang oder Harmonie mit dem kommt, was in den Übungen oder sonst in der inneren Versen- kung die Seele verrichtet. Das Ideal der Entwicklung ist, dass durch den physischen Leib selbst gar keine Übungen, auch nicht solche Atemübungen gemacht würden, sondern dass alles, was mit ihm zu geschehen hat, sich nur als eine Folge der reinen Intuitionsübungen einstellte. Wenn der Geistesschüler auf dem Wege in die höheren Er- kenntniswelten aufsteigt, so bemerkt er auf einer gewissen Stu- fe, dass das Zusammenhalten der Kräfte seiner Persönlichkeit eine andere Form annimmt, als es in der physisch-sinnlichen Welt hat. In dieser bewirkt das Ich ein einheitliches Zusam- menwirken der Seelenkräfte, zunächst des Denkens, Fühlens und Wollens. Diese drei Seelenkräfte stehen ja in den gewöhnli- chen menschlichen Lebenslagen jeweilig immer in gewissen Beziehungen. Man sieht zum Beispiel ein gewisses Ding in der Außenwelt. Es gefällt oder missfällt der Seele. Das heißt, es schließt sich mit einer gewissen Notwendigkeit an die Vorstel- lung des Dinges ein Gefühl der Lust oder Unlust. Man begehrt auch wohl das Ding oder erhält den Impuls, es in dieser oder jener Richtung zu ändern. Das heißt: Begehrungsvermögen und Wille gesellen sich zu einer Vorstellung und einem Gefühle hinzu. Dass dieses Zusammengesellen stattfindet, wird bewirkt da- durch, dass das Ich Vorstellen (Denken), Fühlen und Wollen einheitlich zusammenschließt und auf diese Art Ordnung in die Kräfte der Persönlichkeit bringt. Diese gesunde Ordnung würde unterbrochen, wenn sich das Ich nach dieser Richtung machtlos erwiese, wenn zum Beispiel die Begierde einen andern Weg gehen wollte als das Gefühl oder die Vorstellung. Ein Mensch wäre nicht in einer gesunden Seelenverfassung, welcher zwar dächte, dass dies oder jenes richtig sei, aber nun etwas wollte, wovon er nicht die Ansicht hat, dass es richtig ist. Ebenso wäre es, wenn jemand nicht das wollte, was ihm gefällt, sondern das, was ihm missfällt. Nun bemerkt der Mensch, dass auf dem Wege zur höheren Erkenntnis Denken, Fühlen und Wollen in der Tat sich sondern und jedes eine gewisse Selbständigkeit annimmt, dass zum Beispiel ein bestimmtes Denken nicht mehr wie durch sich selbst zu einem bestimmten Fühlen und Wollen drängt. Es stellt sich die Sache so, dass man im Denken etwas richtig wahrnehmen kann, dass man aber, um überhaupt zu einem Ge- fühle oder zu einem Willensentschluss zu kommen, wieder aus sich heraus einen selbständigen Antrieb braucht. Denken, Füh- len und Wollen bleiben eben während der übersinnlichen Be- trachtung nicht drei Kräfte, welche aus dem gemeinsamen Ich- Mittelpunkte der Persönlichkeit ausstrahlen, sondern sie wer- den wie zu selbständigen Wesenheiten, gleichsam zu drei Per- sönlichkeiten; und man muss jetzt das eigene Ich um so stärker machen, denn es soll nicht bloß in drei Kräfte Ordnung brin- gen, sondern drei Wesenheiten lenken und führen. Aber diese Teilung darf eben nur während der übersinnlichen Betrachtung bestehen. Und wieder tritt es hier deutlich zutage, wie wichtig es ist, neben den Übungen zu höherer Schulung diejenigen ein- hergehen zu lassen, welche der Urteilsfähigkeit, dem Gefühls- und Willensleben Sicherheit und Festigkeit geben. Denn bringt man diese nicht mit in die höhere Welt, so wird man alsbald sehen, wie sich das Ich schwach erweist und kein ordentlicher Lenker sein kann des Denkens, Fühlens und Wollens. Die Seele würde, wenn diese Schwäche vorhanden wäre, wie von drei Persönlichkeiten in die verschiedenen Richtungen gezerrt, und ihre innere Geschlossenheit müsste aufhören. Wenn die Ent- wicklung des Geistesschülers aber in der rechten Art verläuft, so bedeutet die gekennzeichnete Kräftewandlung einen wahren Fortschritt; das Ich bleibt über die selbständigen Wesenheiten, welche nun seine Seele bilden, der Herrscher. — Im weiteren Verlaufe der Entwicklung schreitet die angedeutete Entwick- lung dann fort. Das Denken, das selbständig geworden ist, regt das Auftreten einer besonderen vierten seelisch-geistigen We- senheit an, welche man bezeichnen kann wie ein unmittelbares Einfließen von Strömungen in den Menschen, die den Gedan- ken ähnlich sind. Die ganze Welt erscheint da als Gedankenge- bäude, das vor einem steht, wie die Pflanzen- oder Tierwelt im physisch-sinnlichen Gebiete. Ebenso regen das selbständig ge- wordene Fühlen und Wollen zwei Kräfte in der Seele an, wel- che in derselben wie selbständige Wesen wirken. Und noch eine siebente Kraft und Wesenheit kommt dazu, welche ähnlich dem eigenen Ich selber ist. Dieses ganze Erlebnis verbindet sich noch mit einem andern. Vor dem Betreten der übersinnlichen Welt kannte der Mensch Denken, Fühlen und Wollen nur als innere Seelenerlebnisse. Sobald er die übersinnliche Welt betritt, nimmt er Dinge wahr, welche nicht Sinnlich-Physisches ausdrücken, sondern Seelisch- Geistiges. Hinter den von ihm wahrgenommenen Eigenschaften der neuen Welt stehen jetzt seelisch-geistige Wesenheiten. Und diese bieten sich ihm jetzt so dar als eine Außenwelt, wie sich ihm im physisch-sinnlichen Gebiet Steine, Pflanzen und Tiere vor die Sinne gestellt haben. Es kann nun der Geistesschüler einen bedeutsamen Unterschied wahrnehmen zwischen der sich ihm erschließenden seelisch-geistigen Welt und derjenigen, welche er gewohnt war, durch seine physischen Sinne wahrzu- nehmen. Eine Pflanze der sinnlichen Welt bleibt, wie sie ist, was auch des Menschen Seele über sie fühlt oder denkt. Das ist bei den Bildern der seelisch-geistigen Welt zunächst nicht der Fall. Sie ändern sich, je nachdem der Mensch dieses oder jenes empfindet oder denkt. Dadurch gibt ihnen der Mensch ein Ge- präge, das von seinem eigenen Wesen abhängt. Man stelle sich vor, ein gewisses Bild trete in der imaginativen Welt vor dem Menschen auf. Verhält er sich zunächst in seinem Gemüte gleichgültig dagegen, so zeigt es sich in einer gewissen Gestalt. In dem Augenblicke aber, wo er Lust oder Unlust gegenüber dem Bilde empfindet, ändert es seine Gestalt. Die Bilder drü- cken somit zunächst nicht nur etwas aus, was selbständig au- ßerhalb des Menschen ist, sondern sie spiegeln auch dasjenige, was der Mensch selbst ist. Sie sind ganz und gar durchsetzt von des Menschen eigener Wesenheit. Diese legt sich wie ein Schleier über die Wesenheiten hin. Der Mensch sieht dann, wenn auch eine wirkliche Wesenheit ihm gegenübersteht, nicht diese, sondern sein eigenes Erzeugnis. So kann er zwar durchaus Wahres vor sich haben und doch Falsches sehen. Ja, das ist nicht nur der Fall mit Bezug auf das, was der Mensch als seine We- senheit selbst an sich bemerkt; sondern alles, was an ihm ist, wirkt auf diese Welt ein. Es kann zum Beispiel der Mensch ver- borgene Neigungen haben, die im Leben durch Erziehung und Charakter nicht zum Vorschein kommen; auf die geistig- seelische Welt wirken sie; und diese bekommt die eigenartige Färbung durch das ganze Wesen des Menschen, gleichgültig, wieviel er von diesem Wesen selbst weiß oder nicht weiß. — Um weiter fortschreiten zu können von dieser Stufe der Ent- wicklung aus, ist es notwendig, dass der Mensch unterscheiden lerne zwischen sich und der geistigen Außenwelt. Es wird nötig, dass er alle Wirkungen des eigenen Selbstes auf die um ihn be- findliche seelisch-geistige Welt ausschalten lerne. Man kann das nicht anders, als wenn man sich eine Erkenntnis erwirbt von dem, was man selbst in die neue Welt hineinträgt. Es handelt sich also darum, dass man zuerst wahre, durchgreifende Selbst- erkenntnis habe, um dann die umliegende geistig-seelische Welt rein wahrnehmen zu können. Nun bringen es gewisse Tatsa- chen der menschlichen Entwicklung mit sich, dass solche Selbsterkenntnis beim Eintritte in die höhere Welt wie natur- gemäß stattfinden muss. Der Mensch entwickelt ja in der ge- wöhnlichen physisch-sinnlichen Welt sein Ich, sein Selbstbe- wusstsein. Dieses Ich wirkt nun wie ein Anziehungs- Mittelpunkt auf alles, was zum Menschen gehört. Alle seine Neigungen, Sympathien, Antipathien, Leidenschaften, Meinun- gen usw. gruppieren sich gleichsam um dieses Ich herum. Und es ist dieses Ich auch der Anziehungspunkt für das, was man das Karma des Menschen nennt. Würde man dieses Ich unverhüllt sehen, so würde man an ihm auch bemerken, dass bestimmt geartete Schicksale es noch in dieser und den folgenden Verkör- perungen treffen müssen, je nachdem es in den vorigen Verkör- perungen so oder so gelebt, sich dieses oder jenes angeeignet hat. Mit alle dem, was so am Ich haftet, muss es nun als erstes Bild vor die Menschenseele treten, wenn diese in die seelisch- geistige Welt aufsteigt. Dieser Doppelgänger des Menschen muss, nach einem Gesetz der geistigen Welt, vor allem andern als dessen erster Eindruck in jener Welt auftreten. Man kann das Gesetz, welches da zugrunde liegt, sich leicht verständlich machen, wenn man das Folgende bedenkt. Im physisch- sinnlichen Leben nimmt sich der Mensch nur insofern selbst wahr, als er sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen inner- lich erlebt. Diese Wahrnehmung ist aber eine innerliche; sie stellt sich nicht vor den Menschen hin, wie sich Steine, Pflan- zen und Tiere vor ihn hinstellen. Auch lernt sich durch innerli- che Wahrnehmung der Mensch nur zum Teil kennen. Er hat nämlich etwas in sich, was ihn an einer tiefergehenden Selbst- erkenntnis hindert. Es ist dies ein Trieb, sogleich, wenn er durch Selbsterkenntnis sich eine Eigenschaft gestehen muss und sich keiner Täuschung über sich hingeben will, diese Eigen- schaft umzuarbeiten. Gibt er diesem Triebe nicht nach, lenkt er einfach die Aufmerk- samkeit von dem eigenen Selbst ab und bleibt er, wie er ist, so benimmt er sich selbstverständlich auch die Möglichkeit, sich in dem betreffenden Punkte selbst zu erkennen. Dringt der Mensch aber in sich selbst und hält er sich ohne Täuschung die- se oder jene seiner Eigenschaften vor, so wird er entweder in der Lage sein, sie an sich zu verbessern oder aber er wird dies in der gegenwärtigen Lage seines Lebens nicht können. In dem letzteren Falle wird seine Seele ein Gefühl beschleichen, das man als Gefühl des Schämens bezeichnen muss. So wirkt in der Tat des Menschen gesunde Natur: Sie empfindet durch die Selbsterkenntnis mancherlei Arten des Schämens. Nun hat die- ses Gefühl schon im gewöhnlichen Leben eine ganz bestimmte Wirkung. Der gesund denkende Mensch wird dafür sorgen, dass dasjenige, was ihn an sich selbst mit diesem Gefühl erfüllt, nicht in Wirkungen nach außen sich geltend mache, dass es nicht in äußeren Taten sich auslebe. Das Schämen ist also eine Kraft, welche den Menschen antreibt, etwas in sein Inneres zu ver- schließen und dies nicht äußerlich wahrnehmbar werden zu lassen. Wenn man dies gehörig bedenkt, so wird man begreif- lich finden, dass die Geistesforschung einem inneren Seelener- lebnis, das mit dem Gefühl des Schämens ganz nahe verwandt ist, noch viel weitergehende Wirkungen zuschreibt. Sie findet, dass es in den verborgenen Tiefen der Seele eine Art verborge- nes Schämen gibt, dessen sich der Mensch im physisch- sinnlichen Leben nicht bewusst wird. Dieses verborgene Gefühl wirkt aber in einer ähnlichen Art wie das gekennzeichnete of- fenbare des gewöhnlichen Lebens: es verhindert, dass des Menschen innerste Wesenheit in einem wahrnehmbaren Bilde vor den Menschen hintritt. Wäre dieses Gefühl nicht da, so würde der Mensch vor sich selbst wahrneh- men, was er in Wahrheit ist; er würde seine Vorstellungen, Ge- fühle und seinen Willen nicht nur innerlich erleben, sondern sie wahrnehmen, wie er Steine, Tiere und Pflanzen wahrnimmt. So ist dieses Gefühl der Verhüller des Menschen vor sich selbst. Und damit ist es zugleich der Verhüller der ganzen geistig- seelischen Welt. Denn indem sich des Menschen eigene innere Wesenheit vor ihm verhüllt, kann er auch das nicht wahrneh- men, an dem er die Werkzeuge entwickeln sollte, um die see- lisch-geistige Welt zu erkennen; er kann seine Wesenheit nicht umgestalten, so dass sie geistige Wahmehmungsorgane erhielte. — Wenn nun aber der Mensch durch regelrechte Schulung da- hin arbeitet, diese Wahmehmungsorgane zu erhalten, so tritt dasjenige als erster Eindruck vor ihn hin, was er selbst ist. Er nimmt seinen Doppelgänger wahr. Diese Selbstwahrnehmung ist gar nicht zu trennen von der Wahrnehmung der übrigen geistig-seelischen Welt. Im gewöhnlichen Leben der physisch- sinnlichen Welt wirkt das charakterisierte Gefühl so, dass es fortwährend das Tor zur geistig-seelischen Welt vor dem Men- schen zuschließt. Wollte der Mensch nur einen Schritt machen, um in diese Welt einzudringen, so verbirgt das sogleich auftre- tende, aber nicht zum Bewusstsein kommende Gefühl des Schämens das Stück der geistig-seelischen Welt, das zum Vor- schein kommen will. Die charakterisierten Übungen aber schließen diese Welt auf. Nun ist die Sache so, dass jenes ver- borgene Gefühl wie ein großer Wohltäter des Menschen wirkt. Denn durch alles das, was man sich ohne geisteswissenschaftli- che Schulung an Urteilskraft, Gefühlsleben und Charakter er- wirbt, ist man nicht imstande, die Wahrnehmung der eigenen Wesenheit in ihrer wahren Gestalt ohne weiteres zu ertragen. Man würde durch diese Wahrnehmung alles Selbstgefühl, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein verlieren. Dass dies nicht geschehe, dafür müssen wieder die Vorkehrungen sorgen, wel- che man neben den Übungen für die höhere Erkenntnis zur Pflege seiner gesunden Urteilskraft, seines Gefühls- und Cha- rakterwesens unternimmt. Durch seine regelrechte Schulung lernt der Mensch wie absichtslos so viel aus der Geisteswissen- schaft kennen und es werden ihm außerdem so viele Mittel zur Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung klar, als notwendig sind, um kraftvoll seinem Doppelgänger zu begegnen. Es ist dann für den Geistesschüler so, dass er nur als Bild der imagina- tiven Welt in anderer Form das sieht, womit er sich in der phy- sischen Welt schon bekanntgemacht hat. Wer in richtiger Art zuerst in der physischen Welt durch seinen Verstand das Kar- magesetz begriffen hat, der wird nicht besonders erbeben kön- nen, wenn er nun die Keime seines Schicksals eingezeichnet sieht in dem Bilde seines Doppelgängers. Wer durch seine Ur- teilskraft sich bekanntgemacht hat mit der Welten- und Menschheitsentwicklung und weiß, wie in einem bestimmten Zeitpunkte dieser Entwicklung die Kräfte des Luzifer in die menschliche Seele eingedrungen sind, der wird es unschwer ertragen, wenn er gewahr wird, dass in dem Bilde seiner eige- nen Wesenheit diese luziferischen Wesenheiten mit allen ihren Wirkungen enthalten sind. — Man sieht aber hieraus, wie not- wendig es ist, dass der Mensch nicht den eigenen Eintritt in die geistige Welt verlange, bevor er durch seine gewöhnliche in der physisch-sinnlichen Welt entwickelte Urteilskraft gewisse Wahrheiten über die geistige Welt verstanden hat. Was in die- sem Buche vor der Auseinandersetzung über die «Erkenntnis der höheren Welten» mitgeteilt ist, das sollte der Geistesschüler im regelrechten Entwicklungsgange durch seine gewöhnliche Urteilskraft sich angeeignet haben, bevor er das Verlangen hat, sich selbst in die übersinnlichen Welten zu begeben. Bei einer Schulung, in welcher nicht auf Sicherheit und Festig- keit der Urteilskraft, des Gefühls- und Charakterlebens gesehen wird, kann es geschehen, dass dem Schüler die höhere Welt entgegentritt, bevor er dazu die nötigen inneren Fähigkeiten hat. Dann würde ihn die Begegnung mit seinem Doppelgänger bedrücken und zu Irrtümern führen. Würde aber — was aller- dings auch möglich wäre — die Begegnung ganz vermieden und der Mensch doch in die übersinnliche Welt eingeführt, dann wäre er ebensowenig imstande, diese Welt in ihrer wahren Ge- stalt zu erkennen. Denn es wäre ihm ganz unmöglich, zu unter- scheiden zwischen dem, was er in die Dinge hineinsieht, und dem, was sie wirklich sind. Diese Unterscheidung ist nur mög- lich, wenn man die eigene Wesenheit als ein Bild für sich wahrnimmt und dadurch sich alles das von der Umgebung los- löst, was aus dem eigenen Innern fließt. — Der Doppelgänger wirkt für das Leben des Menschen in der physisch-sinnlichen Welt so, dass er sich durch das gekennzeichnete Gefühl des Schämens sofort unsichtbar macht, wenn sich der Mensch der seelisch-geistigen Welt naht. Damit verbirgt er aber auch diese ganze Welt selbst. Wie ein «Hüter» steht er da vor dieser Welt, um den Eintritt jenen zu verwehren, welche zu diesem Eintritte noch nicht geeignet sind. Er kann daher der «Hüter der Schwel- le, welche vor der geistig-seelischen Welt ist», genannt werden. — Außer durch das geschilderte Betreten der übersinnlichen Welt begegnet der Mensch noch beim Durchgang durch den physischen Tod diesem «Hüter der Schwelle». Und er enthüllt sich nach und nach im Verlaufe des Lebens in der seelisch- geistigen Entwicklung zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Da kann aber die Begegnung den Menschen nicht be- drücken, weil er davon andern Welten weiß als in dem Leben zwischen Geburt und Tod. Wenn der Mensch, ohne die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» zu haben, die geistig-seelische Welt betreten würde, so könnte er Täuschung nach Täuschung verfallen. Denn er könnte nie unterscheiden, was er selbst in diese Welt hinein- trägt und was ihr wirklich angehört. Eine regelrechte Schulung darf aber den Geistesschüler nur in das Gebiet der Wahrheit, nicht in dasjenige der Illusion führen. Eine solche Schulung wird durch sich selbst so sein, dass die Begegnung notwendig einmal erfolgen muss. Denn sie ist die eine der für die Beobach- tung übersinnlicher Welten unentbehrlichen Vorsichtsmaßre- geln gegen die Möglichkeit Von Täuschung und Phantastik. — Es gehört zu den unerlässlichsten Vorkehrungen, welche jeder Geistesschüler treffen muss, sorgfältig an sich zu arbeiten, um nicht zum Phantasten zu werden, zu einem Menschen, der ei- ner möglichen Täuschung, Selbsttäuschung (Suggestion und Selbstsuggestion) verfallen kann. Wo die Anweisungen zur Geistesschulung recht befolgt werden, da werden zugleich die Quellen vernichtet, welche die Täuschung bringen können. Hier kann natürlich nicht ausführlich von all den zahlreichen Einzelheiten gesprochen werden, die bei solchen Vorkehrungen in Betracht kommen. Es kann nur angedeutet werden, worauf es ankommt. Täuschungen, welche hier in Betracht kommen, ent- springen aus zwei Quellen. Sie rühren zum Teil davon her, dass man durch die eigene seelische Wesenheit die Wirklichkeit färbt. Im gewöhnlichen Leben der physisch-sinnlichen Welt ist diese Quelle der Täuschung von verhältnismäßig geringer Ge- fahr; denn hier wird sich die Außenwelt immer scharf in ihrer eigenen Gestalt der Beobachtung aufdrängen, wie sie auch der Beobachter nach seinen Wünschen und Interessen wird färben wollen. Sobald man jedoch die imaginative Weit betritt, verän- dern sich deren Bilder durch solche Wünsche und Interessen, und man hat wie eine Wirklichkeit vor sich, was man erst selbst gebildet oder wenigstens mitgebildet hat. Dadurch nun, dass durch die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» der Geistes- schüler alles kennenlernt, was in ihm ist, was er also in die see- lisch-geistige Welt hineintragen kann, ist diese Quelle der Täu- schung beseitigt. Und die Vorbereitung, welche der Geistes- schüler vor dem Betreten der seelisch-geistigen Welt sich ange- deihen lässt, wirkt ja dahin, dass er sich gewöhnt, schon bei der Beobachtung der sinnlich-physischen Welt sich selbst auszu- schalten und die Dinge und Vorgänge rein durch ihre eigene Wesenheit auf sich einsprechen zu lassen. Wer diese Vorberei- tung genügend durchgemacht hat, kann ruhig die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» erwarten. Durch sie wird er sich endgültig prüfen, ob er sich nun wirklich in der Lage fühlt, sei- ne eigene Wesenheit auch dann auszuschalten, wenn er der see- lisch-geistigen Welt gegenübersteht. Außer dieser Quelle von Täuschungen gibt es nun noch eine andere. Sie tritt dann zutage, wenn man einen Eindruck, den man empfängt, unrichtig deutet. Im physisch-sinnlichen Leben ist ein einfaches Beispiel für solche Täuschung diejenige, welche entsteht, wenn man in einem Eisenbahnzuge sitzt und glaubt, die Bäume bewegen sich in der entgegengesetzten Richtung des Zuges, während man sich doch selbst mit dem Zuge bewegt. Obwohl es zahlreiche Fälle gibt, wo solche Täuschungen in der sinnlich-physischen Welt schwieriger richtigzustellen sind als in dem angeführten einfachen, so ist doch leicht einzusehen, dass innerhalb dieser Welt der Mensch auch die Mittel findet, solche Täuschungen hinwegzuschaffen, wenn er mit gesundem Urteil alles das in Betracht zieht, was der entsprechenden Auf- klärung dienen kann. Anders steht die Sache allerdings, sobald man in die übersinnlichen Gebiete eindringt. In der sinnlichen Welt werden die Tatsachen durch die menschliche Täuschung nicht geändert; deshalb ist es möglich, durch eine unbefangene Beobachtung die Täuschung an den Tatsachen zu berichtigen. In der übersinnlichen Welt aber ist das nicht ohne weiteres möglich. Wenn man einen übersinnlichen Vorgang beobachten will und mit einem unrichtigen Urteile an ihn herantritt, so trägt man dieses unrichtige Urteil in ihn hinein; und es wird dieses mit der Tatsache so verwoben, dass es von ihr nicht so- gleich zu unterscheiden ist. Der Irrtum ist dann nicht in dem Menschen und die richtige Tatsache außer demselben, sondern der Irrtum ist selbst zum Bestandteil der äußeren Tatsache ge- macht. Er kann deshalb auch nicht einfach durch eine unbefan- gene Beobachtung der Tatsache berichtigt werden. Es ist damit auf dasjenige hingewiesen, was eine überreich fließende Quelle von Täuschung und Phantastik für denjenigen sein kann, wel- cher ohne die richtige Vorbereitung an die übersinnliche Welt herantritt. — Wie nun der Geistesschüler sich die Fähigkeit erwirbt, diejenigen Täuschungen auszuschließen, welche durch die Färbung der übersinnlichen Welterscheinungen mit der ei- genen Wesenheit entstehen, so muss er auch die andere Gabe erlangen: die zweite charakterisierte Quelle der Täuschung un- wirksam zu machen. Er kann ausschalten, was von ihm selbst kommt, wenn er erst das Bild des eigenen Doppelgängers er- kannt hat; und er wird ausschalten können, was in der angege- benen Richtung eine zweite Täuschungsquelle ist, wenn er sich die Fähigkeit erwirbt, an der Beschaffenheit einer Tatsache der übersinnlichen Welt zu erkennen, ob sie Wirklichkeit oder Täuschung ist. Wenn die Täuschungen genau so aussehen wür- den wie die Wirklichkeiten, dann wäre eine Unterscheidung nicht möglich. So ist es aber nicht. Täuschungen der übersinnli- chen Welten haben an sich selbst Eigenschaften, durch welche sie sich von den Wirklichkeiten unterscheiden. Und es kommt darauf an, dass der Geistesschüler weiß, an welchen Eigenschaf- ten er die Wirklichkeiten erkennen kann. Nichts erscheint selbstverständlicher, als dass der Nichtkenner geistiger Schulung sagt: Wo gibt es denn überhaupt eine Möglichkeit, sich gegen Täuschung zu schützen, da die Quellen für dieselbe so zahlreich sind? Und wenn er weiter sagt: Ist denn überhaupt irgendein Geistesschüler davor sicher, dass nicht alle seine vermeintlichen höheren Erkenntnisse nur auf Täuschung und Selbsttäuschung (Suggestion und Autosuggestion) beruhen? Wer so spricht, be- rücksichtigt nicht, dass in jeder wahren Geistesschulung durch die ganze Art, wie diese verläuft, die Quellen der Täuschung verstopft werden. Erstens wird sich der wahre Geistesschüler durch seine Vorbereitung genügend viele Kenntnisse erwerben über alles das, was Täuschung und Selbsttäuschung herbeifüh- ren kann, und sich dadurch in die Lage versetzen, sich vor ih- nen zu hüten. Er hat in dieser Beziehung wirklich wie kein an- derer Mensch Gelegenheit, sich nüchtern und urteilsfähig zu machen für den Gang des Lebens. Er wird durch alles, was er erfährt, veranlasst, nichts von unbestimmten Ahnungen, Einge- bungen usw. zu halten. Die Schulung macht ihn so vorsichtig wie möglich. Dazu kommt, dass jede wahre Schulung zunächst zu Begriffen über die großen Weltereignisse, also zu Dingen führt, welche ein Anspannen der Urteilskraft notwendig ma- chen, wodurch diese aber zugleich verfeinert und geschärft wird. Nur wer es ablehnen wollte, in solche entlegene Gebiete sich zu begeben, und sich nur an näherliegende «Offenbarun- gen» halten. wollte, dem könnte verlorengehen die Schärfung jener gesunden Urteilskraft, welche ihm Sicherheit gibt in der Unterscheidung zwischen Täuschung und Wirklichkeit. Doch alles dieses ist noch nicht das Wichtigste. Das Wichtigste liegt in den Übungen selbst, welche bei einer regelrechten Geistesschu- lung verwendet werden. Diese müssen nämlich so eingerichtet sein, dass das Bewusstsein des Geistesschülers während der in- neren Versenkung genau alles überschaut, was in der Seele vor- geht. Zuerst wird für die Herbeiführung der Imagination ein Sinnbild geformt. In diesem sind noch Vorstellungen von äuße- ren Wahrnehmungen. Der Mensch ist nicht allein an ihrem Inhalte beteiligt; er macht ihn nicht selbst. Also kann er sich einer Täuschung darüber hingeben, wie er zustande kommt; er kann seinen Ursprung falsch deuten. Aber der Geistesschüler entfernt diesen Inhalt aus seinem Bewusstsein, wenn er zu den Übungen für die Inspiration aufsteigt. Da versenkt er sich nur noch in seine eigene Seelentätigkeit, welche das Sinnbild gestal- tet hat. Auch da ist noch Irrtum möglich. Der Mensch hat sich durch Erziehung, Lernen usw. die Art seiner Seelentätigkeit angeeignet. Er kann nicht alles über ihren Ursprung wissen. Nun aber entfernt der Geistesschüler auch noch diese eigene Seelentätigkeit aus dem Bewusstsein. Wenn nun etwas bleibt, so haftet an diesem nichts, was nicht zu überschauen ist. In dieses kann sich nichts einmischen, was nicht in bezug auf seinen gan- zen Inhalt zu beurteilen ist. In seiner Intuition hat also der Geis- tesschüler etwas, was ihm zeigt, wie eine ganz klare Wirklich- keit der geistig-seelischen Welt beschaffen ist. Wenn er nun die also erkannten Kennzeichen der geistig-seelischen Wirklichkeit auf alles anwendet, was an seine Beobachtung herantritt, dann kann er Schein von Wirklichkeit unterscheiden. Und er kann sicher sein, dass er bei Anwendung dieses Gesetzes vor der Täu- schung in der übersinnlichen Welt ebenso bewahrt bleiben wird, wie es ihm in der physisch-sinnlichen Welt nicht gesche- hen kann, ein vorgestelltes heißes Eisenstück für ein solches zu halten, das wirklich brennt. Es ist selbstverständlich, dass man sich so nur zu denjenigen Erkenntnissen verhalten wird, welche man als seine eigenen Erlebnisse in den übersinnlichen Welten ansieht, und nicht zu denen, die man als Mitteilungen von an- deren empfängt und welche man mit seinem physischen Ver- stande und seinem gesunden Wahrheitsgefühle begreift. Der Geistesschüler wird sich bemühen, eine genaue Grenzscheide zu ziehen zwischen dem, was er sich auf die eine, was auf die ande- re Art erworben hat. Er wird willig auf der einen Seite die Mit- teilungen über die höheren Welten aufnehmen und sie durch seine Urteilsfähigkeit zu begreifen suchen. Wenn er aber etwas als Selbsterfahrung, als eine von ihm selbst gemachte Beobach- tung bezeichnet, so wird er geprüft haben, ob ihm diese genau mit den Eigenschaften entgegengetreten ist, welche er an der untrügerischen Intuition wahrnehmen gelernt hat. Wenn der Geistesschüler die Begegnung mit dem gekennzeich- neten «Hüter der Schwelle» hinter sich hat, dann stehen ihm beim Aufstieg in übersinnliche Welten weitere Erlebnisse be- vor. Zunächst wird er bemerken, dass eine innere Verwandt- schaft besteht zwischen diesem «Hüter der Schwelle» und jener Seelenkraft, die sich in der oben gegebenen Schilderung als die siebente ergeben und wie zu einer selbständigen Wesenheit ge- staltet hat. Ja, diese siebente Wesenheit ist in gewisser Bezie- hung nichts anderes als der Doppelgänger, der «Hüter der Schwelle» selbst. Und sie stellt dem Geistesschüler eine beson- dere Aufgabe. Er hat das, was er in seinem gewöhnlichen Selbst ist und was ihm im Bilde erscheint, durch das neugeborene Selbst zu leiten und zu führen. Es wird sich eine Art von Kampf ergeben gegen den Doppelgänger. Derselbe wird fortwährend die Überhand anstreben. Sich in das rechte Verhältnis zu ihm setzen, ihn nichts tun lassen, was nicht unter dem Einflusse des neugeborenen «Ich» geschieht, das stärkt und festigt aber auch des Menschen Kräfte. — Nun ist es in der höheren Welt mit der Selbsterkenntnis nach einer gewissen Richtung hin anders als in der physisch-sinnlichen Welt. Während in der letzteren die Selbsterkenntnis nur als inneres Erlebnis auftritt, stellt sich das neugeborene Selbst sogleich als seelisch-äußere Erscheinung dar. Man sieht sein neugeborenes Selbst wie ein anderes Wesen vor sich. Aber man kann es nicht ganz wahrnehmen. Denn wel- che Stufe man auch erstiegen haben mag auf dem Wege in die übersinnlichen Welten hinauf: es gibt immer noch höhere Stu- fen. Auf solchen wird man immer noch mehr wahrnehmen von seinem «höheren Selbst». Es kann also dieses dem Geistesschüler auf irgendeiner Stufe nur teilweise sich enthüllen. Nun ist aber die Versuchung ungeheuer groß, welche den Menschen befällt, wenn er zuerst irgend etwas von seinem «höheren Selbst» ge- wahr wird, dieses «höhere Selbst» gleichsam von dem Stand- punkte aus zu betrachten, welchen man in der physisch- sinnlichen Welt gewonnen hat. Diese Versuchung ist sogar gut, und sie muss eintreten, wenn die Entwicklung richtig vor sich gehen soll. Man muss das betrachten, was als der Doppelgänger, der «Hüter der Schwelle», auftritt, und es vor das «höhere Selbst» stellen, damit man den Abstand bemerken kann zwi- schen dem, was man ist, und dem, was man werden soll. Bei dieser Betrachtung beginnt der «Hüter der Schwelle» aber eine ganz andere Gestalt anzunehmen. Er stellt sich dar als ein Bild aller der Hindernisse, welche sich der Entwicklung des «höhe- ren Selbst» entgegenstellen. Man wird wahrnehmen, welche Last man an dem gewöhnlichen Selbst schleppt. Und ist man dann durch seine Vorbereitungen nicht stark genug, sich zu sagen: Ich werde hier nicht stehenbleiben, sondern unablässig mich zu dem «höheren Selbst» hinaufentwickeln, so wird man erlahmen und zurückschrecken vor dem, was bevorsteht. Man ist dann in die seelisch-geistige Welt hineingetaucht, gibt es aber auf, sich weiterzuarbeiten. Man wird ein Gefangener der Gestalt, die jetzt durch den «Hüter der Schwelle» vor der Seele steht. Das Bedeutsame ist, dass man bei diesem Erlebnis nicht die Empfindung hat, ein Gefangener zu sein. Man wird viel- mehr etwas ganz anderes zu erleben glauben. Die Gestalt, wel- che der «Hüter der Schwelle» hervorruft, kann so sein, dass sie in der Seele des Beobachters den Eindruck hervorbringt, dieser habe nun in den Bildern, welche auf dieser Entwicklungsstufe auftreten, schon den ganzen Umfang aller nur möglichen Wel- ten vor sich; man sei auf dem Gipfel der Erkenntnis angekom- men und brauche nicht weiter zu streben. Statt als Gefangener wird man sich so als der unermesslich reiche Besitzer aller Wel- tengeheimnisse fühlen können. Darüber, dass man ein solches Erlebnis haben kann, welches das Gegenteil des wahren Tatbe- standes darstellt, wird sich derjenige nicht verwundern, welcher bedenkt, dass man ja dann, wenn man dies erlebt, bereits in der seelisch-geistigen Welt steht, und dass es Eigentümlichkeit die- ser Welt ist, dass in ihr sich die Ereignisse umgekehrt darstellen können. In diesem Buche ist auf diese Tatsache bei der Betrach- tung des Lebens nach dem Tode hingewiesen worden. Die Gestalt, welche man auf dieser Stufe der Entwicklung wahrnimmt, zeigt dem Geistesschüler noch etwas anderes als diejenige, in der sich ihm zuerst der «Hüter der Schwelle» dar- gestellt hat. In diesem Doppelgänger waren wahrzunehmen alle diejenigen Eigenschaften, welche das gewöhnliche Selbst des Menschen hat infolge des Einflusses der Kräfte des Luzifer. Nun ist aber im Laufe der menschlichen Entwicklung durch den Ein- fluss Luzifers eine andere Macht in die Menschenseele eingezo- gen. Es ist diejenige, welche als die Kraft Ahrimans in früheren Abschnitten dieses Buches bezeichnet ist. Es ist dies die Kraft, welche den Menschen im physisch-sinnlichen Dasein verhin- dert, die hinter der Oberfläche des Sinnlichen liegenden geistig- seelischen Wesenheiten der Außenwelt wahrzunehmen. Was unter dem Einflusse dieser Kraft aus der Menschenseele gewor- den ist, das zeigt im Bilde die Gestalt, welche bei dem charakte- risierten Erlebnisse auftritt. — Wer entsprechend vorbereitet an dieses Erlebnis herantritt, der wird ihm seine wahre Deutung geben; und dann wird sich bald eine andere Gestalt zeigen, die- jenige, welche man den «großen Hüter der Schwelle» im Gegen- satz zu dem gekennzeichneten «kleinen Hüter» nennen kann.. Dieser teilt dem Geistesschüler mit, dass er nicht stehenzublei- ben hat auf dieser Stufe, sondern energisch weiterzuarbeiten. Er ruft in dem Beobachter das Bewusstsein hervor, dass die Welt, die erobert ist, nur eine Wahrheit wird und sich in keine Illusi- on verwandelt, wenn die Arbeit in entsprechender Art fortge- setzt wird. — Wer aber durch eine unrichtige Geistesschulung unvorbereitet an dieses Erlebnis herantreten würde, dem würde sich dann, wenn er an den «großen Hüter der Schwelle» kommt, etwas in die Seele gießen, was nur mit dem «Gefühle eines un- ermesslichen Schreckens», einer «grenzenlosen Furcht» vergli- chen werden kann. Wie die Begegnung mit dem «kleinen Hüter der Schwelle» dem Geistesschüler die Möglichkeit gibt, sich zu prüfen, ob er gegen Täuschungen geschützt ist, welche durch Hineintragen seiner Wesenheit in die übersinnliche Welt entstehen können, so kann er sich an den Erlebnissen, die zuletzt zu dem «großen Hüter der Schwelle» führen, prüfen, ob er jenen Täuschungen gewachsen ist, welche oben auf die zweite gekennzeichnete Quelle zurückgeführt wurden. Vermag er jener gewaltigen Illu- sion Widerstand zu bieten, welche ihm die errungene Bilder- welt als einen reichen Besitz vorgaukelt, während er doch nur ein Gefangener ist, so ist er im weiteren Verlauf seiner Entwick- lung auch davor bewahrt, Schein für Wirklichkeit zu nehmen. Der «Hüter der Schwelle» wird für jeden einzelnen Menschen eine individuelle Gestalt bis zu einem gewissen Grade anneh- men. Die Begegnung mit ihm entspricht ja gerade demjenigen Erlebnis, durch welches der persönliche Charakter der über- sinnlichen Beobachtungen überwunden und die Möglichkeit gegeben wird, in eine Region des Erlebens einzutreten, die von persönlicher Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gül- tig ist. Wenn der Geistesschüler die beschriebenen Erlebnisse gehabt hat, dann ist er fähig, in der seelisch-geistigen Umwelt dasjeni- ge, was er selbst ist, von dem, was außer ihm ist, zu unterschei- den. Er wird dann erkennen, wie das Verständnis des in diesem Buche geschilderten Weltprozesses notwendig ist, um den Men- schen und dessen Leben selbst zu verstehen. Man versteht ja den physischen Leib nur, wenn man erkennt, wie er sich aufge- baut hat durch die Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenent- wicklung. Man versteht den Ätherleib; wenn man seine Bildung durch Sonnen-, Monden- und Erdenentwicklung verfolgt usw. Man versteht aber auch dasjenige, was gegenwärtig mit der Er- denentwicklung zusammenhängt, wenn man erkennt, wie sich alles nach und nach entfaltet hat. Man wird durch die Geistes- schulung in den Stand gesetzt, das Verhältnis von allem, was am Menschen ist, zu entsprechenden Tatsachen und Wesenheiten der außer dem Menschen befindlichen Welt zu erkennen. Denn so ist es: jedes Glied am Menschen steht in einem Verhältnis zu der ganzen übrigen Welt. In diesem Buche konnten darüber ja nur die Andeutungen im skizzenhaften Umriss gemacht wer- den. Man muss aber bedenken, dass zum Beispiel der physische Menschenleib während der Saturnentwicklung nur in der ersten Anlage vorhanden war. Seine Organe: das Herz, die Lunge, das Gehirn haben sich später, während der Sonnen-, Monden- und Erdenzeit, aus den ersten Anlagen herausgebildet. So also stehen Herz, Lunge, usw. in Beziehungen zu Sonnen-, Mondenent- wicklung, Erdenentwicklung. Ganz entsprechend ist es mit den Gliedern des Ätherleibes, des Empfindungsleibes, der Empfin- dungsseele usw. Es ist der Mensch aus der ganzen, ihm zunächst liegenden Welt herausgestaltet; und jede Einzelheit, die an ihm ist, entspricht einem Vorgange, einem Wesen der Außenwelt. Der Geistesschüler kommt auf der entsprechenden Stufe seiner Entwicklung dazu, dieses Verhältnis seines eigenen Wesens zur großen Welt zu erkennen. Und man kann diese Erkenntnisstufe das Gewahrwerden nennen des Entsprechens der «kleinen Welt», des Mikrokosmos, das ist des Menschen selbst, und der «großen Welt», des Makrokosmos. Wenn der Geistesschüler bis zu solcher Erkenntnis sich durchgerungen hat, dann kann für ihn ein neues Erlebnis eintreten. Er fängt an, sich wie mit dem ganzen Weltenbau verwachsen zu fühlen, trotzdem er sich in seiner vollen Selbständigkeit empfindet. Es ist diese Empfindung ein Aufgehen in die ganze Welt, ein Einswerden mit derselben, aber ohne die eigene Wesenheit zu verlieren. Man kann diese Entwicklungsstufe als «Einswerden mit dem Makrokosmos» be- zeichnen. Es ist bedeutsam, dass man dieses Einswerden nicht so zu denken hat, als wenn durch dasselbe das Sonderbewusstsein aufhören und die menschliche Wesenheit in das All ausfließen würde. Es wäre ein solcher Gedanke nur der Ausdruck einer aus ungeschulter Urteilskraft fließenden Meinung. Die einzelnen Stufen der höheren Erkenntnis im Sinne jenes Einweihungsvor- ganges, der hier beschrieben worden ist, können nun in der fol- genden Art bezeichnet werden: 1. Das Studium der Geisteswissenschaft, wobei man sich zu- nächst der Urteilskraft bedient, welche man in der physisch- sinnlichen Welt gewonnen hat. 2. Die Erwerbung der imaginativen Erkenntnis. 3. Das Lesen der verborgenen Schrift (entsprechend der Inspira- tion). 4. Das Sicheinleben in die geistige Umgebung (entsprechend der Intuition>. 5. Die Erkenntnis der Verhältnisse von Mikrokosmos und Mak- rokosmos. 6. Das Einswerden mit dem Makrokosmos. 7. Das Gesamterleben der vorherigen Erfahrungen als eine Grund-Seelenstimmung. Diese Stufen brauchen aber nicht etwa so gedacht zu werden, dass sie nacheinander durchgemacht werden. Die Schulung kann vielmehr so verlaufen, dass je nach der Individualität des Geistesschülers eine vorhergehende Stufe nur bis zu einem ge- wissen Grade durchschritten ist, wenn er beginnt, Übungen zu machen, welche der folgenden Stufe entsprechen. Es kann zum Beispiel ganz gut sein, dass man erst einige Imaginationen in sicherer Art gewonnen hat und doch schon Übungen macht, welche die Inspiration, die Intuition oder die Erkenntnis vom Zusammenhange des Mikrokosmos und Makrokosmos in den Bereich des eigenen Erlebens ziehen. Wenn der Geistesschüler sich ein Erlebnis von der Intuition verschafft hat, so kennt er nicht nur die Bilder der seelisch- geistigen Welt, er kann nicht nur ihre Beziehungen in der «ver- borgenen Schrift» lesen: er kommt zu der Erkenntnis der Wesen selbst, durch deren Zusammenwirken die Welt zustande kommt, welcher der Mensch angehört. Und er lernt dadurch sich selbst in derjenigen Gestalt kennen, die er als geistiges We- sen in der seelisch-geistigen Welt hat. Er hat sich zu einer Wahrnehmung seines höheren Ich durchgerungen, und er hat bemerkt, wie er weiter zu arbeiten hat, um seinen Doppelgän- ger, den «Hüter der Schwelle», zu beherrschen. Er hat aber auch die Begegnung gehabt mit dem «großen Hüter der Schwelle», der vor ihm steht wie ein stetiger Aufforderer, weiterzuarbei- ten. Dieser «große Hüter der Schwelle» wird nun sein Vorbild, dem er nachstreben will. Wenn diese Empfindung in dem Geis- tesschüler auftritt, dann hat er die Möglichkeit erlangt zu er- kennen, wer da eigentlich als der «große Hüter der Schwelle» vor ihm steht. Es verwandelt sich nämlich nunmehr dieser Hü- ter in der Wahrnehmung des Geistesschülers in die Christusge- stalt, deren Wesenheit und Eingreifen in die Erdenentwicklung aus den vorhergehenden Kapiteln dieses Buches ersichtlich ist. Der Geistesschüler wird dadurch in das erhabene Geheimnis selbst eingeweiht, das mit dem Christus-Namen verknüpft ist. Der Christus zeigt sich ihm als das «große menschliche Erden- vorbild». — Ist auf solche Art durch Intuition der Christus in der geistigen Welt erkannt, dann wird auch verständlich, was sich auf der Erde geschichtlich abgespielt hat in der vierten nachatlantischen Entwicklungsperiode der Erde (in der grie- chisch-lateinischen Zeit). Wie zu dieser Zeit das hohe Sonnen- wesen, das Christus-Wesen, in die Erdenentwicklung eingegrif- fen hat, und wie es nun weiter wirkt innerhalb dieser Erden- entwicklung, das wird für den Geistesschüler eine selbsterlebte Erkenntnis. Es ist also ein Aufschluss über den Sinn und die Be- deutung der Erdenentwicklung, welchen der Geistesschüler erhält durch die Intuition. Der hiermit geschilderte Weg zur Erkenntnis der übersinnli- chen Welten ist ein solcher, welchen ein jeder Mensch gehen kann, in welcher Lage er sich auch innerhalb der gegenwärtigen Lebensbedingungen befindet. Wenn von einem solchen Wege die Rede ist, so muss man bedenken, dass das Ziel der Erkennt- nis und Wahrheit zu allen Zeiten der Erdenentwicklung dassel- be ist, dass aber die Ausgangspunkte des Menschen zu verschie- denen Zeiten verschiedene waren. Der Mensch kann gegenwär- tig nicht von demselben Ausgangspunkte ausgehen, wenn er den Weg in die übersinnlichen Gebiete betreten will, wie zum Beispiel der alte ägyptische Einzuweihende. Daher lassen sich die Übungen, welche dem Geistesschüler im alten Ägypten auf- erlegt wurden, nicht ohne weiteres von dem gegenwärtigen Menschen ausführen. Seit jener Zeit sind die menschlichen See- len durch verschiedene Verkörperungen hindurchgegangen; und dieses Weiterschreiten von Verkörperung zu Verkörperung ist nicht ohne Sinn und Bedeutung. Die Fähigkeiten und Eigen- schaften der Seelen ändern sich von Verkörperung zu Verkör- perung. Wer das menschliche, geschichtliche Leben auch nur oberflächlich betrachtet, kann bemerken, dass seit dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert nach Christus sich gegen früher alle Lebensbedingungen geändert haben, dass Meinungen, Ge- fühle, aber auch Fähigkeiten der Menschen anders geworden sind, als sie vorher waren. Der hier beschriebene Weg zur höhe- ren Erkenntnis ist nun ein solcher, welcher für Seelen tauglich ist, welche in der unmittelbaren Gegenwart sich verkörpern. Er ist so, dass er den Ausgangspunkt der geistigen Entwicklung da ansetzt, wo der Mensch in der Gegenwart steht, wenn er in ir- gendwelchen durch diese Gegenwart ihm gegebenen Lebens- verhältnissen sich befindet. — Die fortschreitende Entwicklung führt die Menschheit in bezug auf die Wege zu höherer Er- kenntnis ebenso von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt zu immer anderen Formen, wie auch das äußere Leben seine Gestaltungen ändert. Und es muss ja auch jederzeit ein vollkommener Ein- klang herrschen zwischen dem äußeren Leben und der Einwei- hung.